Comic-Blog

UnbenanntSchöner kann es am Meer selbst nicht sein
von Andreas Platthaus

Wollen Sie einen richtig preiswerten Strandurlaub mit allen Schikanen erleben? Dann geben Sie 24 Euro für den meisterlichen Comic „Rein in die Fluten!“ aus

Am vergangenen Wochenende feierte der Berliner Reprodukt Verlag seinen 25. Geburtstag, und ein schöneres Geschenk konnte er sich selbst (und uns) kaum machen als den Band „Rein in die Fluten!“ Geschrieben, aber auch mitgezeichnet hat ihn Pascal Rabaté, einer der besten französischen Szenaristen (und Zeichner); gezeichnet, aber auch mitgeschrieben David Prudhomme, einer der besten französischen Zeichner (und Szenaristen). Gemeinsam sind sie ein Traumduo, wie sie vor einigen Jahren bereits mit ihrer Kooperation „Die Plastikmadonna“ bewiesen haben.

Allerdings muss man sagen, dass sich dieser damals bei Carlsen erschienene wunderbare Comic, der den französischen Alltag am Beispiel einer angeblichen Wundererscheinung auf höchst skurrile und amüsante Weise unter die Lupe nahm, in Deutschland miserabel verkauft hat. Umso wichtiger und leider auch mutiger, dass Reprodukt nun den zweiten Band der beiden herausbringt. Aber da die Solowerke der Autoren (jeweils sensationell: „Rembetiko“ und „Einmal durch den Louvre“ im Falle Prudhommes sowie „Bäche und Flüsse“ von Rabaté) ohnehin schon ihre deutsche Heimat bei dem Berliner Verlag gefunden haben, ist die Übernahme des Gemeinschaftsalbums nur konsequent.

120 Seiten lang ist es, und es erscheint im richtigen Moment, zum Beginn des Sommers. Denn in „Vive la marée“ (wörtlich „Es leben die Gezeiten“, aber auch „Hoch lebe die Flut“ im Sinne von Menschenmassen), wie der Comic im Original heißt, geht es um Strandurlaub. Der deutsche Titel ist etwas ranschmeißerisch, hat dafür aber ein subtileres Umschlagbild, auf dem man etliche Schwimmer aus Unterwasserperspektive sieht, darunter ein Paar, das sich in einer Pose umarmt, die Prudhomme einer Gemäldeserie des italienischen Kollegen Lorenzo Mattotti abgeschaut hat. Dieser augenzwinkernde Gruß ist das I-Tüpfelchen eines Buchs, das unter anderem eben auch eine gigantische Hommage ist.

Allerdings nicht an einen anderen Comic, sondern an einen Film: Jacques Tatis „Ferien des Monsieur Hulot“. Nicht, dass Rabaté und Prudhomme Figuren, Handlungsort oder Verlauf zitierten, aber sie übernehmen das wichtigste dieses Films: die Struktur. Wie bei Tati wird die große Strandgesellschaft individualisiert, und wir verfolgen in winzigen Episoden mit immer neuen Konstellationen das Geschehen am Meer. Dabei geben die Figuren gewissermaßen nach ein, zwei Seiten den Staffelstab an andere Protagonisten ab, quasi im Vorbeigehen, indem plötzlich die Aufmerksamkeit bei einem anderen Badegast hängenbleibt und man ihn für eine Weile verfolgt. Und es passiert ähnlich wenig im Comic wie in Tatis Film, doch es ist genauso komisch und entlarvend.

Wie in „Die Ferien des Monsieur Hulot“ beginnt alles mit der Anreise (Leseprobe hier), wahlweise mit Auto oder Zug, und schon durch die Verhaltensweisen der Beteiligten dabei werden sie charakterisiert: als Angeber, Geizhälse, Querulanten die Erwachsenen, während die Kinder als unschuldige Staffagefiguren fungieren, die zwar bisweilen selbst die Handlung vorantreiben, aber nie jene Blasiertheit oder Arroganz zeigen, die ihre Eltern auszeichnet. Den unschuldigen Tor allerdings, wie Hulot es ist, den gibt es hier nicht. Als einzige rundum sympathische Handlungsträger treten lediglich zwei Anstreicher auf, die den ganzen Tag lang mit dem Lackieren von Metallzäunen beschäftigt sind. Man darf darin wohl ein Selbstporträt von Rabaté und Prudhomme erkennen.

Was den Comic aber erst zur veritablen Meisterleistung macht, ist die graphische Konzeption. Dass sich ein Strand ideal zur Inszenierung einer Comicgeschichte eignet, ist evident: Vor der weiten weißen Fläche zeichnet sich das Geschehen im buchstäblichen Sinne perfekt ab. Zudem aber wählen die beiden Autoren für ihre Geschichte höchst ungewöhnliche Perspektiven, nämlich meist die von am Strand Liegenden, also aus extremer Untersicht, verbunden mit Überlagerungen von Bildebenen, die kleine Elemente im Vordergrund in optischen Gleichklang mit größeren weiter hinten bringen. Das schönste Beispiel ist die Ankunft eines ebenso dick- wie weißbäuchigen Herrn am FKK-Strand, den er über eine Düne zu erreichen scheint, die sich durchs Wegzoomen der Betrachterposition als unbekleideter Körper einer jungen Frau erweist. Oder ein kleines Mädchen kadriert mit den Fingern einzelne Badeszenen zu Bildern auf einem imaginierten Smartphone, die es dann beliebig vergrößern oder verkleinern kann. Und das Tolle ist, dass die Comicbilder dieses Spiel mitzumachen scheinen, bis dann doch einmal eine Wischbewegung des Kindes scheitert und die Illusion zerstört.

Klüger ist seit vielen Jahren kein Comic mehr in Szene gesetzt worden, und wenn man überhaupt ernsthafte Vorläufer oder Konkurrenz nennen sollte, so müsste man wohl auf Erzählrevolutionäre wie Marc-Antoine Mathieu oder David B. verweisen. Im Mainstreamcomic aber, und dazu zählt „Rein in die Fluten!“, der sich im vergangenen Jahr in Frankreich exzellent verkauft hat (glückliches Comicland!), hat es eine so ausgefuchste Verschränkung von Verlauf und Visualisierung noch nicht gegeben. Und die Dialogregie in der gewohnt sorgfältigen Übersetzung von Uli Pröfrock tut das Ihrige dazu, dass man staunend weiterliest, denn wie es Rabaté und Prudhomme gelingt, sowohl das dauerhafte Gemurmel des Strandlebens wie die Freudenjauchzer und Zurufe abzubilden, das wäre eine eigene Analyse wert. Dieser Comic führt so ziemlich alles vor, was man überhaupt graphisch erzählen kann.

Doch nichts davon wirkt aufgesetzt oder gar manieriert. Dieser Comic, der nur einen einzigen heißen Sommertag porträtiert, aber dabei gleich Dutzende von Menschen und deren Marotten, verhält sich in der Erzählhaltung so selbstverständlich wie die Flut am Strand selbst. Immer wieder rollen deren Ausläufer an, ziehen sich scheinbar wieder zurück, und setzen doch schließlich alles unaufhaltsam unter Wasser. Auch dieser Geschichte kann man nicht entkommen.

Wir sehen die Rentner und die Tätowierten, die Sportler und die Sonnenanbeter, die Schönen und die Schlaffen, die Dreisten und die Scheuen, die Frauen und die Männer, die Menschen und die Tiere. Wir sehen einen Badeort, als bewegten wir uns mit den Protagonisten durch dessen Straßen. Und wir sehen nicht nur den Strand, wir fühlen, riechen, hören ihn. Und irgendwo mittendrin sind auch wie selbst. Man muss nur sehr genau hinsehen, -fühlen, -riechen, -hören. Aber das ist ein einziges Vergnügen. Herzlichen Glückwunsch dem Verlag und den Lesern dieses Comics.

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