Andreas Platthaus: Übernahmeversuch geglückt

Der „New Yorker“ ist doch schon das weltweit wichtigste Forum für Cartoons. Wieso da noch eine Spezialausgabe zum Thema? Weil man da erst richtig zeigen kann, wie man zeichnend erzählen kann. Und über Zeichnen.

Vier Wochen lang keine Comics lesen – das ist mir lange nicht mehr passiert. Aber das Land, in dem ich mich aufhielt, hat keine übermäßig große Zeichner- oder Szenaristenschar zu bieten, und es liegt auch zu fernab von allem, als dass in den dortigen Buchläden mehr als das zu finden wäre, was man eh schon kennt – und der großen Distanz wegen liegt es dort auch noch etwas später als überall sonst auf dem Planeten. Aber das kann bisweilen auch sein Gutes haben.

Von früheren Besuchen hatte ich Magnation gut in Erinnerung, ein Spezialgeschäft für Magazine aus aller Welt, allerdings zu neunundneunzig Prozent englischsprachige. Dort stieß ich Mitte Februar auf eine bereits zwei Monate alte Ausgabe des „New Yorker“, die mir im Dezember wohl aufgrund des allgemeinen Weihnachtstrubels entgangen war: „Cartoon Takeover“ steht auf dem Titelblatt, und genau das passiert in diesem Heft mit dem Coverdatum 30. Dezember 2019 denn auch. Es ist nahezu zur Gänze Cartoons gewidmet.

Nun ist der „New Yorker“ ja ohnehin nicht weniger als die Kathedrale des Cartoons, und das schon, seit er 1925 zum ersten Mal erschien, also vor 95 Jahren. Von Beginn an regelmäßig mit humoristischen Einzelillustrationen durchsetzt, sind sie bis heute das Markenzeichen des Blattes geblieben. Fotografie gibt es im „New Yorker“ überhaupt erst seit den neunziger Jahren, und noch heute überwiegen die Illustrationen deutlich. Als Art Spiegelmans Ehefrau und Mitstreiterin Francoise Mouly 1993 zur Artdirektorin des Magazins wurde, kam auch noch das dazu, was zuvor gefehlt hatte: Comic-Kompetenz. Seitdem darf man im „New Yorker“ selten, aber doch zuverlässig auch mit Bildergeschichten rechnen. Und die Zahl der internationalen Comicgrößen, die in den letzten drei Jahrzehnten Umschlagzeichnungen für die Zeitschrift angefertigt haben, ist kaum mehr überschaubar. Ich nennen mal nur Robert Crumb, Jacques de Loustal, Chris Ware, Joost Swarte oder Adrian Tomine.

Warum aber dann überhaupt eine Spezialausgabe zum Thema „Cartoon“, wenn doch jede Einzelnummer die Kunstform so breit präsentiert? Die derzeitige Cartoon-Redakteurin des „New Yorker“, Emma Allen, rechtfertigt die Entscheidung im ersten Beitrag zur wöchentlichen Klatsch- und Klassekolumne „The Talk of the Town“ mit einer kleinen Fiktion: Alle anderen Mitarbeiter wollten in die Weihnachtsferien gehen, also habe man kurzerhand die Cartoonabteilung eingesperrt und ihr das Heft überlassen. Und die hat ganze Arbeit geleistet.

Der umfangreichste Artikel des Heftes widmet sich Roz Chast, der hauseigenen Cartoonistin. Wobei „hauseigen“ Unsinn ist, denn der „New Yorker“ hat noch nie einen Cartoonisten fest beschäftigt, nicht einmal Charles Addams, der aber immerhin ein eigenes Büro im Redaktionsgebäude besaß. Roz Chasts Karriere aber ist auch als freie Mitarbeiterin untrennbar mit dem Magazin verbunden, und Adam Gopnik, der staff writer mit der größten Cartoonkompetenz, hat die 1954 geborene Zeichnerin besucht und porträtiert. Schönheitsfehler dabei: Eine besonders große Rolle im Artikel spielt Roz Chasts Nebenbeibeschäftigung als Mitglied im Ukulele-Trio „Ukulear Meltdown“, dem aber auch Gropniks eigene Gattin angehört. Da wäre eine strikte Trennung von privatem und redaktionellem Interesse angeraten gewesen. Aber ein schönes Porträt ist es denn doch geworden.

Diverse Zeichner und Autoren sind von der Redaktion nach ihren Lieblings-Cartoons aus der „New Yorker“-Geschichte gefragt worden, und die genannten Zeichnungen werden kommentarlos abgedruckt – ein wunderbares Sammelsurium, das aber auch die Kurzsichtigkeit der Menschen belegt, denn das meiste stammt aus den letzten dreißig Jahren. Ganz besonders wunderbar indes sind die literarischen Texte im Heft: eine grandiose Imagination der Zivilklage der Trickfilmfigur Wile E. Coyote gegen den Haushaltswaren Hersteller Acme, dessen Markennamen, wie Animationskenner wissen werden, auf vielen Objekten der Warner-Bros.-Kurzfilme der vierziger und fünfziger Jahre prangt. Aus der Feder des wohl literarisch wichtigsten Autors der langen „New Yorker“-Geschichte, dem Schriftsteller John Updike, wird eine kurze Reminiszenz an seine jungen Versuche, Cartoonist zu werden, geboten (inklusive dreier eher missratener Zeichnungen). Oder Jonathan Lethems Erzählung „Super Goat Man“ über einen abgehalfterten Superhelden im universitären Betrieb. Enttäuschend dagegen, weil kein bisschen cartoonbezogen, die short story „I Can Speak“ von George Saunders. Da hat die Prominenz der Verfassers über die inhaltliche Komponente gesiegt. Schade.

Und dann gibt es Comics. Einmal die tragikomische autobiographische Erzählung „How to Draw a Horse“ von Emma Hunsinger, zehn Seiten lang, wie aus einem Skizzenbuch entnommen, aber wunderbar in der Verquickung der Unfähigkeit der jungen Zeichnerin, ein Pferd zu zeichnen und einer bewunderten Mitschülerin ihre Zuneigung zu gestehen. Dann sind da drei jeweils einseitige Comics von Emily Flake über Erlebnisse mit ihrer kleinen Tochter – hinreißend beobachtet und erzählt. Und es gibt die nur zweiseitige Erzählung „Lines“ von Ebony Flowers über ihre Großmutter Victoria, die als farbige Frau häuslicher Gewalt und institutionellem Rassismus ausgesetzt war. Flowers‘ Zeichnungen setzen am schönsten die ästhetische Linie der klassischen „New Yorker“-Cartoons fort. Was dann der letzten vertretenen Comic-Arbeit, Liana Fincks „Hammurabi’s Code of Manners“ leider ganz misslingt. Aber gleich vier Zeichnerinnen und kein einziger Zeichner – das ist ein starkes Frauenstatement. Vor allem neben den ausschließlich von Männern verfassten Prosastücken im Heft.

Diese Ausgabe ist ein beglückendes Vademecum. Und sie hat in den zwei Monaten seit ihrem Erscheinen nichts an Aktualität verloren, weil hier ausnahmsweise kein einziger Veranstaltungstip oder politischer Kommentar enthalten ist. Es ist dadurch ein „New Yorker“ wie aus dem Bilderbuch – zeitlose, elegant, witzig. Den werden wir auch in 95 Jahren noch gerne lesen.

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