Comic-Blog

So ein Mauerfall erschüttert doch Herrn Lehmann nicht
von Andreas Platthaus

Tim Dinter hat einen der erfolgreichsten deutschen Romane in einen Comic verwandelt: Und der gezeichnete „Herr Lehmann“ hat die Stärken des Buchs von Sven Regener geschickt bewahrt.

Einer der größten deutschsprachigen Romanerfolge der letzten Jahrzehnte war „Herr Lehmann“, verfasst von Sven Regener, dem Sänger der Gruppe Element of Crime. Das Buch erschien 2001 und ist bislang der einzige Wenderoman eines Autors aus dem Westen, nachdem zuvor die selbst in Ostdeutschland aufgewachsenen Thomas Brussig mit „Helden wie wir“ und danach Uwe Tellkamp mit „Der Turm“ und Eugen Ruge mit „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ riesige Erfolge feierten. Gerade schickt sich ja Lutz Seiler mit dem Roman „Kruso“ an, diese Reihe fortzusetzen.

Warum Regener mit „Herr Lehmann“ in diese ostdeutsche Phalanx einbrechen konnte, dürfte sich dadurch erklären, dass die Wende bei ihm kaum vorkommt. Zwar läuft die Handlung auf den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls, hinaus, doch das ist zugleich auch der dreißigste Geburtstag der Titelfigur Frank Lehmann, eines in Berlin gestrandeten Mannes, der sich als Tresenbedienung in der Kreuzberger Kneipe „Einfall“ durchschlägt und ansonsten nicht recht weiß, was er mit seinem Leben machen soll. All die kleinen Dramen im Freundes- und Berufskreis sind viel wichtiger für das Buch als die politischen Ereignisse des Sommers und Herbstes 1989, und das souveräne Phlegma von Frank Lehmann dürfte etliche westdeutsche Leser beeindruckt haben. „Herr Lehmann“ ist der Wenderoman für Menschen, denen die DDR ziemlich egal war. Deren gibt es anscheinend viele.

Es ist aber auch eine Momentaufnahme Westberlins kurz vor dessen Untergang als eigenständige politische wie kulturelle Einheit. Und deshalb erfordert die Umsetzung dieses Romans als Comic einen genauen Kenner der Westberliner Stadttopographie (die entsprechende Sorgfalt fehlte der Verfilmung von Leander Haußmann aus dem Jahr 2003 bisweilen). Mit Tim Dinter hat sich der Sache ein Zeichner angenommen, der sich – obwohl Jahrgang 1971, also spät, und auch nicht in Berlin geboren oder aufgewachsen – in der Stadt auskennt wie kaum ein Zweiter. Für die „Berliner Seiten“ der F.A.Z. hat er 2002 gemeinsam mit Kai Pfeiffer die Comicserie „Der Flaneur“ gestaltet, und das, was er darin mit der Stadt anstellte, das kommt jetzt auch seiner „Herr Lehmann“-Adaption zugute: Berlin gibt eine unaufdringliche, aber ständig präsente und vor allem überprüfbar genau recherchierte Kulisse für das Geschehen ab (Leseprobe). Der Eichborn-Verlag, auch schon Heimat des Romans, hat mit Dinter eine blendende Wahl getroffen.

Tim Dinter besorgte auch die Textauswahl für seinen Comic, und er nahm Rücksicht darauf, dass Regeners Roman besonders mit seinen Dialogen glänzt. Etliche sind in den Comic übernommen worden, und die Stimmen der Protagonisten prägen deren Bild mindestens so sehr wie ihr gezeichnetes Aussehen. Große gestische oder mimische Aktionen verleiht Dinter ihnen eh nicht; das hätte auch nicht zur ruhigen Ironie des Romans gepasst. Gleichwohl charakterisiert er die Figuren aber durch individuelle Züge, die das kleine Ensemble leicht durchschau- und wiedererkennbar machen.

Die schwarzweiße, allerdings grau lavierte Gestaltung passt ebenfalls hervorragend zur Stimmung von Regeners Buch, das die Sonnenseiten Berlins konsequent ausspart. Und Dinter belässt auch den von Haußmanns Verfilmung arg ins Positive gewendeten Schluss so offen, wie er im Roman ist. Der Comic ist, kurz gesagt, ein Wunder an Aneignung, denn er beschwört die alten Leseeindrücke wieder herauf und gibt ihnen doch ein Mehr an Konkretion. So müssen Literaturadaptionen im Comic sein.