Sondermann-Gala 2023

Die große Sondermann-Gala findet in diesem Jahr am 26.8. um 20.00 Uhr statt. Mitten in Frankfurt, direkt vor dem Caricatura-Museum auf dem Weckmarkt.

Bitte melden Sie Ihr Kommen an unter info@sondermannverein.org.

Wir werden keine Kosten und Mühen scheuen, nur für Sie ein dreitägiges Festival der komischen Kunst mit vielen namhaften Künstlern zu veranstalten. Mittendrin die Sondermann-Gala mit einem großartigen Programm, Kulissen aus feinstem, laubgesägtem Sperrholz und hochwertigen Preisträgern. Die Mitglieder des Sondermann e.V. erhalten außerdem zwei Freigetränke, die ihnen direkt an Ihren reservierten Plätzen von den Sondermann-Domestiken serviert werden. Lassen Sie sich das auf keinen Fall entgehen, sonst entgeht es Ihnen. Darüber hinaus haben wir für Sie eine reiche Auswahl an warmen Worten vorbereitet, die Ihre Aura stärken und Ihr Karma verbessern werden und, was das Beste ist, von denen Sie die meisten, ja, eigentlich fast alle, in diesem Moment auch schon gelesen haben. 

Die große Sondermann Preisverleihungs-Gala 2021 fällt aus

Sondermann hatte nach langer Zeit ohne Galas schon den besten Kunstpelz in Herrn Deubels Kostüm-Verleih ausgesucht. Doch leider muss auch dieses Jahr der Mantel im Schrank bleiben. Wegen der hohen Corona-Inzidenzen müssen wir die Preisverleihung leider absagen.

Der Sondermann-Verein wird die Preisverleihung so schnell es geht nachholen. Die verkauften Gala-Tickets behalten ihre Gültigkeit.

Andreas Platthaus: Sexkapaden und Sexzesse

Ruppert & Mulot sind die wilden Jungs des französischen Comics. Leider kommen sie so selten raus in Deutschland.

Jedes Jahr schicke ich ein gedankliches Dankeschön zu Hanns Zischler, dass er mir irgendwann einmal Ruppert & Mulot empfahl. Für die Drehpausen seiner französischen Filme pflegt er Comics einzukaufen, und so stieß er auf das heute immer noch recht junge Duo (Florent Ruppert ist Jahrgang 1979, Jérôme Mulot 1981), die wie ehedem Dupuy & Berberian eine untrennbare Einheit bilden, weil beide schreiben und zeichnen. Nur viel postmoderner, weil sie mit den Erzählformen und -normen spielen, als bekämen sie’s bezahlt. Bekommen sie aber nicht, denn sie publizieren in Frankreich bei L’Association, und das macht man mehr der Autoren-Ehre wegen.

In diesem Jahr musste ich gleich zwei stille Dankeschöns zu Zischler schicken, denn erst kaufte ich in  Paris „Les petits boloss“, einen dicken Sammelband mit verstreuten Zeitschriftenarbeiten von Ruppert & Mulot aus jüngerer Zeit, und dann erschien auf Deutsch bei Reprodukt endlich „Die Perineum-Technik“, ein im Original schon sechs Jahre alter Comic des Duos, mit dem sie ihre erzählerische Vorliebe für bizarre Sexpraktiken auf die Spitze trieben. Wobei es so bizarr darin gar nicht zugeht, denn die Swingerparty in der Geschichte orientiert sich eher an Schnitzlers „Traumnovelle“, und die titelgebende erotische Praxis besteht darin, die Ejakulation immer wieder hinauszuzögern, so dass auch Männer zu multiplen Orgasmen kommen. Die Emanzipation ist eben nicht aufzuhalten. Man muss nur den Erguss aufhalten.

Protagonist dieses Comics ist ein armer Tropf mit viel Erfolg: Unter dem Künstlernamen JH erstellt ein schon mittelalter Mann Videos und Installationskunst, die ästhetisch ihre beste Zeit schon hinter sich haben, aber immer noch viel Geld einbringen. Weitaus mehr interessiert sich JH für Sex, und die Partnerbörsen im Netz sind sein Jagdgebiet. Nur dass er mit der jungen Sarah auf eine Frau trifft, die sich selbst als Jägerin betrachtet und JH bald in ihren Fängen hat – zu seinem Leidwesen nur virtuell. Als sie ihn auffordert, sich in der Perineum-Technik zu trainieren, hofft er jedoch auf mehr. Wozu sich monatelang aufsparen, wenn es dann nicht zu einem großen Sexzess käme?

Wer schon etwas von Ruppert & Mulot gelesen hat, kann sich denken, wie’s ausgeht. Aber wie das aussieht, das weiß man bei den beiden nie, obwohl ihr graphischer Stil unverkennbar ist. Aber formal überraschen sie immer wieder neu. Ich habe von ihnen Zeitungscomics gelesen und Origamicomics, Faltblätter und extreme Hochformate. Da ist „Die Perineum-Technik“ fast schon enttäuschend normal. Aber Seltsamkeiten haben es eben schwer auf dem deutschen Comicmarkt, selbst beim Reprodukt-Verlag. Und Ruppert & Mulot sind ungewöhnlich genug, dass man es eine Sensation nennen darf, dass sie es überhaupt über die Sprachgrenze geschafft haben. So sieht das übrigens aus.

Auf eine Übersetzung von „Les petits boloss“ – ein Argotbegriff für „kleine Arbeiten“ – brauchen wir deshalb gar nicht erst zu hoffen. Dabei ist der Band ein veritables Best-of, was den Einfallsreichtum angeht, etwa so wie die Kompilationen von B-Seiten besonders kreativer Pop-Bands. In die scheinbaren Nebenwerke geht bisweilen viel mehr Wagemut ein als in die Prestigeaufträge. Und so sehen wir hier Ausschneidebögen, mit denen man kleine Bühnenrondelle herstellen kann, die dann auf Plattentellern kreisen können. Einen Comic über eine Kunstausstellung, der Fotos mit Strichzeichnungen kombiniert. Oder – Höhepunkt der fast zweihundert Seiten – einen im Zirkus spielenden Superheldenkampf, bei dem Spider-Man gegen Daredevil antritt, gezeichnet in einem Filzstift-Kinderstil, der einfach großartig passt für dieses meist infantile Genre. Dass Marvel nicht rechtlich gegen Ruppert & Mulot vorgegangen ist, zeigt allerdings erfreulicherweise, dass auch in Superheldenverlagen erwachsene Menschen sitzen.

Leider ist L’Association wie immer zu stolz, eine ordentliche Leseprobe anzubieten. So bleiben nur Thumbnails (kleine Anschauungen). Aber dieses Winzformat passt auch wieder zu Ruppert & Mulot. Diese Großmeister machen sich gerne klein. Weiß Gott, hätte Hanns Zischler sie nicht gelesen, wären sie mir erst viel später, vielleicht auch nie unter die Augen gekommen. Hier dann doch mal ein ganz laut ausgeschriebenes Danke dafür.

Andreas Platthaus: Was wir nicht sehen, macht den Schrecken aus

In der Comicreihe „Die Unheimlichen“ hat sich Sabine Wilharm eines Klassikers der Schauerliteratur angenommen: „Die Affenpfote“ von W.W. Jacobs. Die ist berühmt für das, was sie verschweigt. Und Wilharm steigert das in ihrer Adaption noch.

Manchmal ziehe ich aus den oberen Fächern meines Regals, also dorther, wo die internetbedingt mittlerweile nur noch selten genutzten gedruckten Nachschlagewerke stehen, Gero von Wilperts „Lexikon der Weltliteratur“ hervor. Meist, um zu überprüfen, wie denn vor einem halben Jahrhundert über Bücher oder Autoren geschrieben wurde, die mich heute beschäftigen. Zu William Wymark Jacobs ist dort zu lesen: „engl. Schriftsteller, 8. 9. 1863 Wapping – 1. 9. 1943 London. Sohn e. Werftaufsehers, 1883-99 Postbeamter, heiratete 1900 Eleanor Williams – Schrieb zahlr. Beiträge für ‚The Strand Magazine‘. Vf. köstl. humorvoller kleiner Erzählungen, in denen er kom. Episoden auf Küstendampfern und in den Häfen schildert …“ Ich unterbreche hier das Zitat, denn was hat ein Werk dieses offenbar eher amüsanten Schriftstellers in einer Gruselbuchreihe zu suchen? Zudem einer, die aus Comics besteht?

„Die Unheimlichen“ heißt diese Reihe; sie wird im Carlsen Verlag seit zwei Jahren von Isabel Kreitz herausgegeben, und obwohl sie trotz höchst namhafter Autoren (Nicolas Mahler, Birgit Weyhe, Barbara Yelin, Lukas Jüliger, Olivia Vieweg und natürlich auch die Herausgeberin selbst)  immer noch nicht recht den Durchbruch am Markt geschafft hat, erscheint sie mit wunderbarer Regelmäßigkeit. Ihr Prinzip ist das der Adaption: Comiczeichner setzen eine Schauergeschichten ins Bild. Der Anspruch ist allerdings ein hoher: Sie sollen dabei zugleich die Vorlage neu interpretieren. Nun ist natürlich jeder Medienwechsel schon eine Interpretation, aber so manche Erzählung in „Die Unheimlichen“ hat tatsächlich eine massive Umdeutung erfahren, am radikalsten bislang in Jüligers Version von Edgar Allan Poes „Berenice“.

Der jüngste Band der Reihe hält sich dagegen sehr streng an die ursprüngliche Geschichte. Gezeichnet hat ihn eine sehr bekannte deutsche Künstlerin, die aber bislang noch nicht durch Comics aufgefallen ist: Sabine Wilharm, sehr populär geworden durch ihre Titelbilder der deutschen Ausgabe von „Harry Potter“, aber schon seit Jahrzehnten eine der besten Bilderbuchzeichnerinnen im Land. Sie hat sich – und nun kommen wir endlich wieder zurück zum Eintrag aus dem „Lexikon der Weltliteratur“ – eine Erzählung von William Wymark Jacobs ausgesucht. Dessen berühmteste sogar, denn was ich eben noch unterschlagen habe im Zitat, liest sich in dessen Fortsetzung so: „… einiger Gruselgeschichten, u. a. der ausgezeichnet konstruierten ‚The Monkey’s Paw‘, sowie ab 1919 einiger Dramen.“ Vergessen wir die Dramen sofort wieder, hier geht es natürlich um „Die Affenpfote“.

Ich kannte die Erzählung nicht, aber nach der Lektüre von Sabine Wilharms Version wollte ich sie sofort kennenlernen. 56 Seiten hat der Comic, eine Einzelausgabe von Jacobs‘ Text hat keine dreißig. Das hat seinen Grund darin, dass, wie Rainer Moritz, der Chef des Hamburger Literaturhauses, es in seinem kurzen Nachwort zum Comic (jeder Band der „Unheimlichen“ hat eines) beschreibt, „Wesentliches nicht gesagt, bewusst ausgespart wird“. Man kann es an einem Beispiel schön deutlich machen: Gleich zu Beginn kommt ein alter Militär zu Besuch bei einem früheren Untergebenen, und er hat die titelgebende Affenpfote bei sich. Die erfülle, so erzählt er seinem Untergebenen namens White, jedem ihrer Besitzer drei Wünsche, und den Mann, von dem er sie erhielt, sei deshalb gestorben. Aber welche Wünsche dieser Sergeant Morris sich erfüllen ließ, das wird in Jacobs‘ Erzählung nie gesagt.

Nur so viel ist klar: Auch Morris haben seine erfüllten Wünsche kein Glück gebracht. Deshalb will er die Pfote verbrennen, doch White erbittet sie für sich. Nach ein paar Seiten hat die Affenpfote also ihren neue Besitzer, und in den restlich zwei Dritteln der Geschichte stürzt sie White und seine Familie ins Unglück.

Wie zeichnet man Auslassungen? Die knappe Leseprobe, die der Verlag anbietet verrät es nicht. Man könnte vermuten, es ginge einfach so, dass man Leerstellen in den Bildern lasse oder Lücken in der Seitenarchitektur, aber Wilharm macht etwas ganz anderes: Sie ergänzt die eigentlich Handlung zu Beginn um in fahlem Lila gehaltene Phantasmen, die den Köpfen der Beteiligten entspringen – exotische Vorstellungen von Indien, woher die Affenpfote stammt, bei den Whites und verzweifelte surreale Bilder bei Morris –, ehe mit dem Besitzerwechsel ein Bilderwirbel einsetzt, der erst die Begeisterung der Whites und dann ihre Verzweiflung deutlich macht. Dazwischen entfaltet Sabine Wilharm einen atemlosen Wechsel der Perspektiven und arbeitet zugleich mit Bühneneffekten, weil sie den Text von Jacobs immer konsequenter auf das Kammerspiel beschränkt, der er ist. Bis sie am Schluss Mr und Mrs White ins Freie entlässt, als ihr dritter Wunsch in Erfüllung geht. Anders als Jacobs erzählt sie nicht, was dieser Wunsch war, geschweige denn, was er hervorbrachte. Sie lässt also noch etwas mehr aus als die Vorlage.

Literarische Gruselgeschichten sind selten wirklich gruselig, wir sind längst verdorben durch die Horroreffekte des Kinos. „Die Affenpfote“ aber führt vor, was Grusel sein kann, und es würde mich interessieren, ob H.P. Lovecraft die Geschichte von Jacobs kannte, als er seine eigene beste, gruseligste schrieb: „Das Ding auf der Schwelle“. Wann kommt übrigens die erste Lovecraft-Erzählung in den „Unheimlichen“?

Andreas Platthaus: His Marxist Majesty Is not Amused

Zum zweihundertsten Geburtstag von Friedrich Engels gibt es nun einen biographischen Comic. Aber der ist leider überhaupt nicht das, was sein Gegenstand war: revolutionär.

Gibt es in diesem Jahr voller runder Jahrestage prominenter alter weißer Männer einen Hegel-, einen Hölderlin- oder einen Celan-Comic? Bildslang meines Wissens nach nicht, aber ein anderer Jubilar hat mehr Glück gehabt: Friedrich Engels, seines Zeichens „Unternehmer & Revolutionär“ (so der Untertitel) und geboren 1820, also vor zweihundert Jahren, in Barmen. Für die weniger Geschichtskundigen unter uns: Diese bergische Stadt gibt es nicht mehr, weil sie 1929 mit dem benachbarten Elberfeld vereinigt und die neue Doppelgemeinde ein Jahr später in Wuppertal umbenannt wurde. Daran dürfte Engels, der berühmteste Sohn der Stadt, nicht ganz unschuldig gewesen sein, denn 1839 hatte er als blutjunger Journalist für eine Monatszeitschrift zwei „Briefe aus dem Wuppertal“ geschrieben, deren erster so begann: „Bekanntlich begreift man unter diesem bei den Freunden des Lichtes sehr verrufenen Namen die beiden Städte Elberfeld und Barmen, die das Tal in einer Länge von fast drei Stunden einnehmen.“

In Wuppertal residiert heute der Comic-Kleinverlag Edition 52, der sich das Jubiläum nicht entgehen lassen wollte, wenn sich auch die Feiern zu Ehren des Mitbegründers der kommunistischen Theorie außerhalb der Stadt in Grenzen halten. Und so muss man hoffen, dass der eher kleinformatige Schwarzweißband  zumindest dort Verbreitung findet, denn leider wurde die Chance vertan, dem durchaus weltweit noch bekannten Friedrich Engels eine attraktiv aufgemachte Comicbiographie zu widmen. Schon die Titelzeichnung zeigt nicht das emblematisch gewordene Vollbartantlitz des älteren Engels, wie man es von tausend Bannern kennt, sondern einen bebrillten, langhaarigen Jungspund, der aussieht wie ein Typenmodell für die Asservatenkammer des neunzehnten Jahrhunderts. Entindividualisiert. Gut, dass wenigstens der Name „Engels“ groß aufgedruckt wurde.

Im Inneren sieht der Band nicht wesentlich besser aus, nämlich so. Das ist eine Szene aus dem Jahr 1849, als auch in Elberfeld Revolution herrschte. Zugleich saß Engels mit dem Redaktionskollegen Karl Marx im nicht allzu fernen Köln und heizte nicht nur den Aufstand mit Artikeln an, sondern brach auch selbst ins heimatliche Wuppertal auf, wo man gegen ihn aber sofort ein Aufenthaltsverbot verhängte. Alsbald wurden er und Marx dann auch in Deutschland nicht mehr geduldet, und beide beschlossen ihr Leben schließlich in England. Das kannte Engels gut, denn 1843 war er als Unternehmersohn nach Manchester geschickt worden, um sich dort in der Firmenführung zu bewähren. Was er dabei an sozialem Elend gesehen hatte, machte ihn erst zum Revolutionär.

Ähnlich sprunghaft wie dieses kurze Resümee seines Lebens ist auch dessen Behandlung im Comic „Engels“. Die Zeiten ändern sich permanent, und die assoziative Klammer über Jahrzehnte hinweg ist bisweilen arg gesucht. Der Zeichner Christoph Heuer, der zusammen mit dem Journalisten Fabian W. W. Mauruschat auch das Szenario geschrieben hat, setzt leider viel mehr auf Wort- als auf Bildverbindungen. Der alte Engels ist es bei ihm, der sich zu mehreren Anlässen an seine jungen Jahre erinnert und damit die jeweiligen Episoden auslöst. Dieser Kunstgriff ist vertraut und leider langweilig. Warum wird einem Umdenker wie Engels nicht etwas mehr eigenes Gehirnschmalz gewidmet, auf dass der ihn ehrende Comic selbst ein wenig revolutionär daherkäme?

Alles ist sehr didaktisch gedacht, und das Quellenverzeichnis für die Darstellung füllt vier ganze Seiten. Dass mit Georg Fülberth ein Engels-Biograph darunter vertreten ist, der orthodoxer Marxist ist, darf man als Segen bezeichnen, denn seine Arbeit bemüht sich wenigstens noch um eine Standortbestimmung im Sinne des historischen Materialismus, während die intellektuellen Salonlinken à la Slavoj Zizek nur noch Zerrbilder des Porträtierten abliefern. Gut, deren Lektüre haben sich Heuer und Mauraschat gespart, aber dass dann Raoul Pecks Spielfilm „Der junge Marx“ als Inspiration auftaucht, enttäuscht wieder. Der Kampf ums Nachleben von Engels hätte eine schöne Coda abgegeben, doch stattdessen bemüht sich ein Epilog, den Uwe Garske, Verleger der Edition 52, verfasst hat, verzweifelt um eine Aktualisierung und lässt zuschlechterletzt Engels als Hipster namens Fred auf einer Demonstration unserer Tage auftreten. His Marxist Majesty wouldn’t be amused.

Im Literaturverzeichnis findet sich auch das erklärte Comic-Vorbild für „Engels“: Alan Moore und Eddie Campbells „From Hell“, die akribisch recherchierte Phantasmagorie über Jack the Ripper. Ähnliche Zeit, teilweise gleicher Schauplatz (London), verwandtes politisches Anliegen. Aber welch ein Unterschied zwischen Campbells im Stil der Graphik des neunzehnten Jahrhunderts angenäherten eleganten Schwarzweißzeichnungen und den leider recht plumpen, vor allem in den Körperproportionen buchstäblich ungelenken Tuschezeichnungen von Heuer. Da wünschte man sich, das Vorbild wäre unerwähnt geblieben. Und für eine bessere Engels-Comicbiographie ist auch noch Platz.

Andreas Platthaus: Seltsam geht es zu in Oddleigh

Nomen ist hier wirklich Omen, nicht nur beim Handlungsort, sondern auch beim Namen der Autorin: Die englische Kinderbuchautorin Tor Freeman beweist mit ihrem ersten Comic eine Freiheit im Erzählen, die generationenübergreifenden Tiefgang wagen kann, ohne die kindliche Freude an der Skurrilität ihrer Figuren zu mindern.

Tor Freeman war mir kein Begriff, bis vor einem Jahr die zweite Ausgabe des Kindercomicmagazins „Polle“ herauskam, die eine Kurzgeschichte der britischen Zeichnerin enthielt: „Der Fluch von Lorringham“. Die war so witzig und zugleich ungewöhnlich, dass ich gerne mehr gelesen hätte, und nun hat der Reprodukt-Verlag mir den Gefallen getan und einen ganzen Band von ihr ins Deutsche übersetzt, in dem sich auch die wunderbare Kurzgeschichte wiederfindet, aber dazu noch vier weitere, die alle gemeinsame Abenteuer der Chefinspektorin Jessie und des ihr untergebenen Sergeanten Sid zum Gegenstand haben. Nach dem Ort, in dem diese beiden Polizisten stationiert sind, heißt der Comic: „Willkommen in Oddleigh“.

Der Name mit der charakteristischen Ortsendung „-leigh“ lässt phonetisch „oddly“ anklingen – seltsam, eigenartig. So geht es in der Tat in ganz Oddleigh zu, nicht nur im dort gelegenen Herrenhaus Lorringham, wo Jessie und Sid einen gruseligen Spuk zu überwinden haben. Andere Episoden drehen sich um das Auftauchen des eigentlich ausgestorbenen Pterodaktylus als leicht wiederzubelebendes Fossil in den Kreideklippen von Oddleigh, um einen obskuren von Schmetterlingen betriebenen Verwandlungskult oder um einen muttergeschädigten Zahnarzt. Die große Kunst von Tor Freeman aber liegt nicht im schieren Aberwitz ihrer Tierfiguren, sondern im Anspielungsreichtum dieser Geschichten für Kinder, an denen deshalb Erwachsene allemal auch ihren Spaß finden.

Der Dentist etwa – ein klassisches Objekt freudianischer Analyse. Die Raupen – Sinnbilder religiöser Verblendung. Der Flugsaurier – Stellvertreter für die Integration von Migranten. Und doch muss man all diese Bezüge zur Wirklichkeit nicht wahrnehmen, um Tor Freemans Comics zu schätzen. Da sie auch noch äußerst liebevoll gezeichnet sind, wäre schon der Niedlichkeitsfaktor ausreichend dafür (zu überprüfen anhand der Leseprobe).

Dadurch kaschiert Freeman die hinter den harmlos anmutenden Geschehnissen mittransportierten ernsten Themen wie Lieblosigkeit, Einsamkeit oder Fanatismus. Oder Neid wie in der noch nicht angesprochenen Episode „Die Leibwächter“, in der eine Familie von berühmten Popsängern (man möge hier je nach Belieben die Kelly Family oder die Jackson 5 als Vorbild vermuten) bedroht wird. Das ist die einzige wirklich Kriminalgeschichte im Band mit den beiden Polizisten als Hauptfiguren, und auch da gelingt es Freeman, eine psychologische Tiefe ins scheinbar oberflächlich-kindliche Erzählen einzubauen, dass man staunt. Schon allein, wie sie eine beginnende Liebe zwischen Inspektorin Jessie und dem bedrohten Lead-Sänger zu inszenieren versteht, ist ein kleines Meisterstück. Man könnte hier noch viel mehr sagen über diesen wunderschönen Comic, aber die durch Verzicht darauf eingesparte Zeit sollte man nutzen, um sofort loszulesen.

Andreas Platthaus: Wie kommt der Fisch in die Fish & Chips?

Olivier Kugler ist einer der großen Reportagecomiczeichner. Für sein neuestes Projekt, einen Bericht über ein Fish-&-Chips-Lokal im Süden Londons, musste er nicht weit reisen, sollte man meinen. Doch dann führte ihn der Weg plötzlich von der britischen Hauptstadt auf die Faröer-Inseln.

Monate lang hat mir der unmittelbare Zugriff auf den französischen Comicmarkt gefehlt, denn in den Buchhandlungen von Paris, Brüssel oder Straßburg fällt mir die Auswahl leichter als beim einschlägigen Internetforum bd.net oder dem französischen Zweig von Amazon. Zumal Letzterer die Auslieferung von Büchern während der Hochzeit der Corona-Pandemie ohnehin hintan stellte und der französische Staat bizarrerweise bd.net verboten hatte, Bücher auszuliefern. Das erste Halbjahr der französischsprachigen Comicproduktion ging also fast komplett an mit vorbei.

Nun war ich wieder in Paris und konnte leider nicht feststellen, dass ich viel versäumt hätte. Noch nie bin ich mit so wenigen neuen Comics aus Frankreich zurückgekommen – auch wenn man bedenken muss, dass kurz vor den Sommerferien ohnehin kein dortiger Verlag mehr neue Bücher auf den Markt bringt. Man wartet auf die rentrée im September, die intensivste Phase desfranzösischen Buchhandels, die dann bis Januar anhält, wenn vor dem Comicfestival von Angoulême noch einmal massenweise Neuerscheinungen herauskommen.  Danach folgt das schwächere Halbjahr, und 2020 war es offenbar besonders schwach.

Ich wäre somit enttäuscht zurückgefahren, wenn ich nicht vor der Abfahrt meines Zuges an der Gare de l’Est meinen obligatorischen Abschiedsbesuch im dortigen Bahnhofskiosk gemacht hätte. Und das Angebot an aktuellen Magazinen machte alles wett. Drei Stück nahm ich mit, und jedes belegt, welchen Stellenwert Comics in unserem Nachbarland besitzen, denn zu keinem davon gibt es auch nur annähernd etwas Ähnliches in Deutschland. Die drei Magazine sind: erstens die jüngste Ausgabe des vor drei Jahren begründeten Vierteljahreszeitschrift „Les arts dessinés“ (Heft 11, diesmal mit langen Bild- und Textstrecken zum amerikanischen Zeichner Charles Burns, der aber in den letzten Jahren wie kaum ein anderer das ästhetische Erbe von Hergé angetreten hat, und zu den beiden großen Toten des französischen Comics im abgelaufenen Jahr: Albert Uderzo und Claire Bretécher). Zweitens die dritte Ausgabe von „HistoriaBD“, einer noch unregelmäßig erscheinenden Reihe, die Comic-Klassiker in ihre jeweilige Handlungszeit einbettet und auf deren Realitätsgehalt überprüft (das erste Heft widmete sich „Asterix“, das zweite „Lucky Luke“, das dritte nun André Franquins „Spirou“-Alben und den „trente glorieuses“, wie man in Frankreich die Jahre von 1945 bis 1975, also die Zeitspanne vom Sieg im Zweiten Weltkrieg bis nach der ersten Ölkrise nennt). Und drittens schließlich die jüngste Ausgabe von „XXI“, immerhin schon die einundfünfzigste dieser Heftreihe. Um sie soll es in diesem Blog gehen.

Oder besser gesagt: nur um 26 Seiten daraus. „XXI“ ist eine Vierteljahreszeitschrift für Reportagen zu politischen Themen, die jeweils stark illustrativ aufgearbeitet werden – sei es mittels Fotografie, Infographik oder Zeichnungen. Von Beginn setzte das Magazin dabei auch auf Comics, und so lohnt der Blick hinein immer wieder. Zum Beispiel war es „XXI“, das den Begründer des Reportagecomics, den Amerikaner Joe Sacco, vor ein paar Jahren beauftragte, zu den Volksgruppen im nordwestlichen Kanada zu reisen, und daraus entstand sein vor wenigen Wochen auch auf Deutsch bei der Edition Moderne erschienener Bericht „Wir gehören dem Land“, ein neuer Meilenstein des Genres. Für die diesjährige Sommerausgabe von „XXI““ hat nun einmal die französische Sachcomicautorin Marie Dubois einen sechsseitigen graphischen Essay über den Konflikt zwischen Mutterschaft und Berufskarriere gezeichnet (ein Vorgeschmack auf ihren ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Magazin entstehenden Sachcomic über Unfruchtbarkeit). Doch die wirkliche Sensation im Heft ist die Arbeit eines von mir seit langem bewunderten Comicreporters: des in London lebenden deutschen Zeichners Olivier Kugler. Wobei „XXI“ ihn als Olivier Kruger ausweist. Bei den Angaben zu den eigenen Mitarbeitern könnte die Akkuratesse noch etwas größer sein.

Von Kugler ist man Weltreisen gewöhnt, wie etwa aus dem Band „Dem Krieg entronnen“, der mich vor drei Jahren beeindruckt hat (nachzulesen hier). Diesmal aber ist er nur kurz vor die Tür gegangen, nach Clapham, einem Stadtteil im südlichen London, wo er Benny’s Traditional Fish & Chips besucht hat, ein hochgelobtes Lokal für das britische National-Fast-Food. An einem Vormittag im Sommer 2018 hat Kugler den Ladeninhaber Ben Stylianou, 1961 in London geborener Sohn eines zyprischen Einwandererpaars und seit 1975 im Familienlokal hinter der Verkaufstheke tätig, beim Aufschließen seines Ladens und dann durch den Tag begleitet. Scheinbar ist das ein banaler Bericht vom Alltag eines Frittenbudenbetreibers, aber daraus wird viel mehr: erst ein kleines Familienporträt der Stylianous, dann eine schon deutlich größere Sozialstudie des sich gentrifizierenden Claphams und schließlich eine aufwendige Recherche auf den Spuren des Fischs, den Ben Stylianou verwendet.

Das ist verblüffend, denn der Beginn der wie gesagt sechsundzwanzigseitigen Reportage im typischen Kugler-Stil aus ineinander fließenden Personen- und Umgebungsdarstellungen (leider kann man auf der Homepage von „XXI“ nur die erste Doppelseite einsehen) bietet keinen Hinweis, dass man das Ecklokal in der North Street bei der Lektüre jemals verlassen würde. Kugler plaudert mit Ben Stylianou, seinen Angehörigen und Kunden, begeht mit ihm die Räumlichkeiten des Fish-&-Chips-Ladens, und plötzlich erwähnt der Gastronom, dass er seinen Kabeljau aus Island beziehe, zeigt die Tiefkühlpackung vor, und auf der nächsten Seite sind wir mit Kugler schon auf den Faröer-Inseln. Denn wie er herausgefunden hat, stammt das Schiff, dass den Kabeljau fängt und gleich an Bord verarbeitet und einfriert, von dort.

Wer jetzt wiederum glaubt, es folgte eine Enthüllungsgeschichte über die ominöse Herkunft des Fisches, sieht sich abermals getäuscht. Ben Stylianou hat nur die Faröer-Inseln mit Island verwechselt (Hauptsache, weit im Norden), und auf dem Schiff wird saubere Arbeit geleistet. Kugler besucht es bei seiner Heimkehr nach einem zehnwöchigen Fischzug durch die Barentssee und unterhält sich mit Besatzung, Kapitän, Eignern und Dienstleistern an Land, bis er auf gerade einmal zwölf Comicseiten die ganze Fischproduktions- und -absatzkette zusammengebracht hat, vom Eismeer über die Faröer bis nach England. Man lernt unglaublich viel über einen verrufenen Erwerbszweig (Stichwort: Überfischung der Meere), zu dem hier aber ganz sachlich recherchiert wird. Nach Lektüre von Kuglers Comicreportage weiß man, dass zumindest für den Kabeljau der Klimawandel eine weitaus größere Bedrohung darstellt als der Fischfang.

Dann sind wir wieder in London, in Benny’s Traditional Fish & Chips, den wir auf den ersten sechs Seiten liebgewonnen haben und nach nun noch acht weiteren Seiten noch viel mehr schätzen, doch am Ende vermeldet Kugler, dass Ben Stylianou sein Lokal mittlerweile geschlossen hat. Angeblich, so heißt es im Comic, am 6. Juni 2018, aber das hätte zeitlich vor dem Beginn der Reportage gelegen, also hat da der Berichterstatter geschludert und das Lektorat von „XXI“ geschlafen, zumal es in London im Juni nicht schon abends um halb neun so stockdunkel ist, wie Kugler es zeichnet, als Ben seinen Laden zum letzten Mal abschließt. Schade, dass ein so offensichtlicher Fehler ganz am Ende durchgerutscht ist.

Aber er tut inhaltlich nichts zur Sache, und danach kommt zur Versöhnung ein kleines Schmankerl, denn Kugler ist ein paar Monate nach dem letzten Geschäftstag in die North Street zurückgekehrt, um nachzusehen, wer dann ins Ladenlokal eingezogen ist (ein Fitnessanbieter), und noch einmal mit Ben Stylianou zu sprechen, der sich mit dem offenbar fürstlichen Verkaufserlös fürs Haus zur Ruhe gesetzt hat. Und nun eine alte Liebe intensivieren will: die Schauspielerei. Da erfährt man, dass der Fish-&-Chips-Verkäufer schon 2016 in einem „Jason Bourne“-Film mitgespielt hat: als griechischer Lastwagenfahrer, und die Internet Movie Data Base bestätigt diese Angabe. Nun hat der bislang verhinderte Schauspieler sich sogar einen Agenten genommen, und so mag Ben aus dem Fritten- ins Filmgeschäft wechseln. Erstaunlich, welche Geschichten das Leben so schreibt! Und erfreulich, dass es Menschen wie Olivier Kugler gibt, die sie so grandios aufzuzeichnen wissen. Und dass dann ein Magazin wie „XXI“ das Ganze druckt: halbalbenlang für sechzehn Euro. Nicht billig, aber über die anderen 170 Seiten der Nummer 51 des Heftes habe ich ja noch kaum gesprochen. Auch wenn es dabei außer Dubois’ Essay keinen weiteren Comic gibt, sind die nämlich auch aller Aufmerksamkeit wert. Aber nichts überrascht so wie Kuglers Reportage mit dem Titel „Le fish and chips n’a plus la frite“ – Fish & Chips sind nicht mehr gut drauf. Wir dagegen sind es nach der Lektüre umso mehr.

Andreas Platthaus: Ein Krake will die Bombe

Der norwegische Zeichner Oyvind Torseter hat mit „Ein Mann für alle Fälle“ eine Art kindgerechter James-Bond- und Jason-Bourne-Geschichte geschaffen.

Nachdem ich an dieser Stelle vor drei Jahren zum ersten Mal über Oyvind Torseter geschrieben hatte, las ich lange nichts mehr von ihm, hörte aber immer wieder viel Gutes über seine weiteren Comics. Und nun ist auf Deutsch „Ein Mann für alle Fälle“ erschienen, eine Geschichte, die mich beim Aufblättern sofort in ihren Bann zog, weil darin Bilderbuch- und Comicästhetik produktiv gemischt werden. Ein ständiger Wechsel zwischen ganz- oder doppelseitigen Bildern und Panel-Blöcken von jeweils vier pro Seite sorgt für eine spannungsfördernde Dramaturgie, weil in den großen Darstellungen zahllose Details untergebracht werden, während die kleinteiligen Bildsequenzen meist nur die Figuren vor leere Hintergründe stellen, mit dieser Fokussierung aber das von ihm meisterhaft beherrschte minimalistische Mienenspiel à la Tove Janssons „Mumins“ erst richtig zur Geltung kommen lassen. Torseter weiß aber nicht nur, was die Comic- und Bilderbuchtradition so alles hergibt, er hat auch die großen Cartoonisten wie Tomi Ungerer, Ronald Searle oder Sempé genau studiert und führt deren scharf-feinen Strich in die Hintergründe seiner größeren Bilder ein. „Ein Mann für alle Fälle“ wird so zur allfälligen Hommage.

Wer sich eine konkrete Vorstellung davon machen will, wie das aussieht, wird vom deutschen Gerstenberg-Verlag wieder mal nur mit dem Titelbild abgespeist. Aber der der norwegische Originalverlag des dort 2018 erschienenen Comics bietet eine ordentliche Leseprobe an, die aber selbstverständlich den norwegischen Text enthält. Da sieht man auch den subtilen Einsatz von Zusatzfarben, den Torseter hier pflegt, und man kann auf einem Bild schon eine Figur ausmachen, die später die Rolle des Bösewichts spielen wird. Ich werde mich aber hüten zu verraten, welche es ist.

Wobei das eigentlich egal wäre, denn die meiste Zeit tritt sie eh als nahezu gesichtsidentischer Doppelgänger von Hans auf, des Ich-Erzählers in diesem Comic, der sich als „Mann für alle Fälle“ im Präsidentenpalast verdingt. Der Präsident regiert einen Staat mit augenscheinlich sehr divers zusammengesetzter Bevölkerung, der über Atombomben verfügt und in Systemkonkurrenz mit einem Land steht, über das eine rote Krake herrscht (dieses Symbol der Bedrohung kennen wir schon aus Torveters „Der siebente Bruder“). Den Präsidenten selbst zeichnet er als Elefant, und man darf wohl annehmen, dass damit etwas über dessen Charakter ausgesagt werden soll – weniger eines guten Gedächtnisses wegen als eines trampel-/trumphaften Verhaltens. Man wagt wohl nicht viel, wenn man sagt: Der namenlose Staat im Comic steht für die Vereinigten Staaten.

Wobei auch das egal ist, denn hier wird keine Politsatire betrieben, sondern die Geschichte einer gestohlenen Identität erzählt. Hans wird eines Tages von seinem Doppelgänger auf der Straße erwartet und kann diesem angesichts seines unwiderstehlichen Lächelns (das Einzige, was die beiden unterscheidet) nicht abschlagen, ihm alles auszuhändigen, was er bei sich trägt. Ausgestattet mit Hans‘ Kleidung und Wohnungsschlüssel nimmt der dreiste Doppelgänger nun dessen Platz ein, und alle Proteste von Hans bei der Polizei fruchten nichts, weil da ja jemand sein Leben lebt, der genauso aussieht wie er und dabei noch freundlicher lächelt.

Auch den Job im Präsidentenplast nimmt der Hochstapler ein, und alsbald vertraut der Hans gegenüber vertrauensselige Staatschef ihm den Atomkoffer an, so dass nun die ganze militärische Gewalt des Landes in den Händen eines Schurken liegt. Dass der den Koffer nicht wie beabsichtigt an den feindlichen Krakenstaat verkaufen kann, ist nur der Tatsache zu verdanken, dass Hans in seiner Verzweiflung die Detektivin Fräulein Cadmium engagiert, die den Doppelgänger doch noch auffliegen lässt.

Was hochdramatisch klingt, wird von Torseter kindgerecht erzählt: mittels seiner abwechslungsreichen Bilder und eines lapidaren Tons, der mehr mit Untertiteln arbeitet als mit Sprechblasen. Die Geschichte nimmt zahlreiche Topoi der Schwarzen Serie auf: Hans trägt Trenchcoat wie Humphrey Bogart, und Fräulein Cadmium wiederum ist als Ermittlerin ein Typ im Geiste von Philip Marlowe. Das macht immens viel Freude, gerade weil das alles so unaufgeregt daherkommt. Selbst wenn es am Ende einen Showdown gibt, der auch in einen James-Bond-Film passen könnte. Und zuvor folgt das Geschehen dem Muster der Filmreihe um Jason Bourne:

So jedenfalls kann man Kinder den Themen der Weltpolitik aussetzen – als lustige Verfolgungsjagd in einer Phantasiewelt, die aber Anknüpfungspunkte zur Realität en masse bietet. Bis zur nächsten Lektüre eines Torseter-Buchs werde ich nicht drei Jahre verstreichen lassen.

Andreas Platthaus: Neonrosagrün ist diese Zukunft – und tiefschwarz

Lukas Kummers Comic „Prinz Gigahertz“ ist ein Grenzgänger in inhaltlicher wie ästhetischer Hinsicht. Und ein Beweis für die verblüffende Erzählfreude seines Schöpfers.

Diesen Comic hatte ich schon einmal gesehen. Nein, nicht weil er aussieht, als hätte Moebius ein Szenario von Lewis Trondheim umgesetzt (und Trondheim dann doch auch noch selbst zeichnerisch ein bisschen Hand angelegt, etwa bei den Totenschädeln am Wegrand). Sondern weil ich ihn  tatsächlich in einem früheren Stadium schon teilweise gelesen hatte, aber da er mich damals anonymisiert erreichte, wäre ich nie darauf gekommen, dass er von einem der größten Talente der deutschsprachigen Comicwelt stammt: von Lukas Kummer.

Das könnte jetzt alles so klingen, als hielte ich nichts von „Prinz Gigahertz“, dem jüngsten Comic Kummers. Das Gegenteil ist der Fall: Es ist das bislang beste Werk des 1988 geborenen Österreichers, der in Kassel das Comiczeichnen studierte und heute noch dort lebt, ein Lustbuch der persönlichsten Art, in dem seine Vorlieben und Stärken überdeutlich werden. Und wenn ich es das bislang Stärkste von Kummer nenne, dann übertrifft es also auch dessen gefeierte Adaption der autobiographischen Bücher von Thomas Bernhard, deren erste beiden Teile, „Die Ursache“ und „Der Keller“, erst kürzlich beim Residenz-Verlag erschienen sind: höchste Ehre, dort die ersten Comics publizieren zu dürfen, und hohe Kunst, wie Kummer da an Bernhard herangeht. Aber daneben auch noch etwas wie „Prinz Gigahertz“ zu zeichnen – Chapeau! Denn damit hat Kummer ganz offensichtlich den Druck der Erwartungen an seine Bernhard-Comics kompensiert.

Weiter weg von seinen Schwarzweißbildern von Bernhards weltzweifelnder und -verzweifelter Nabelschau geht es nämlich kaum. Das beginnt mit den schreienden Farben; schon das Titelbild ist neonrosagrün und weckt optisch Erwartungen an einen Science-Fiction. Irgendwie ist der Comic das auch, denn er spielt in einer unbestimmten, aber ganz gewiss noch weit weg liegenden Zukunft, in der es zu Überschneidungen zweier Paralleluniversen kommt: eines archaisch-mittelalterlichen und eines dekadent-futuristischen. Ein Grenzgänger zwischen beiden Welten ist ein wehrhafter Ritter, über den der Titel des Comics etwas andeutet, was die Geschichte selbst erst ganz zum Schluss verrät – und dieses Blog gar nicht.

Schön geht es nicht zu in der Mittelalter-Welt, die den Hauptschauplatz stellt. Der Protagonist, der gar nicht Gigahertz heißt, sondern Billy, ist nach einem dreißig Jahren währenden persönlichen Blackout wieder erwacht, äußerlich gänzlich unverändert und leider immer noch von einem mordgierigen Roboterdämon verfolgt, der eine Spur des Gemetzels hinter sich lässt, die Kummer mit erkennbarer Freude an Drastik ins Bild setzt. Aber keine Sorge: So gewalttätig das Geschehen ist, bleibt die Darstellung doch immer im spielerischen Modus von Fantasy, und das Phantastische wirkt eben nie realistisch bei Kummer. Zumal er auf Lautmalereien komplett verzichtet, und das ist bei manchen Szenen ein Segen. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie klingt, was der Roboterdämon da anrichtet.

Dass Kummer auch weiß, wie man sich mit graphischem Grauen in die Erinnerung seiner Leser eingräbt, hat 2015 sein Debüt „Die Verwerfung“ gezeigt: eine extrem grausame Episode aus dem Dreißigjährigen Krieg, damals erschienen beim kleinen, aber für die jüngere deutsche Comicgeschichte unentbehrlichen Stuttgarter Zwerchfell-Verlag. Dorthin ist Kummer mit seinem „Prinz Gigahertz“ zurückgekehrt, obwohl sich auch größere Häuser die Finger nach dem Band hätten lecken können: Reprodukt etwa der erzählerischen Nähe zum überschäumenden Zynismus von Lewis Trondheim wegen. Oder Carlsen wegen der klaren Farb- und Formensprache, die ans Edena-Projekt von Moebius anknüpft (um die Anfangsbehauptung dieses Textes noch etwas zu untermauern). Aber der wichtigste Einfluss ist einer, der gar nicht aus der Comictradition stammt, sondern aus der Animation: Kummer zeichnet Dekors im Stil von Eyvind Earle, dem legendären Konzeptgestalter des Disney-Studios der fünfziger Jahre. Wenn man sich die – klugerweise sämtlich sprechblasenfrei gewählten – Probeseiten aus „Prinz Gigahertz“ auf der Verlagsseite ansieht, dann könnten die auch aus den Entwürfen Earles für den „Dornröschen“-Trickfilm von 1959 stammen.

Aber Nostalgie ist Kummers Sache nicht, Dystopie schon weitaus mehr. Und Diachronie, denn die Handlung springt munter zwischen den Zeiten, wenn Kummer die Erinnerungen von Billy an die Ereignisse von vor dreißig Jahren ansatzlos ins aktuelle Geschehen einfließen lässt. Da konstruiert man als Leser eifrig mit und merkt erst spät, dass der Autor die ganze Zeit munter dekonstruiert hat. Wenig ist, wie es scheint, in „Prinz Gigahertz. Mit einer Ausnahme: Lukas Kummer scheint auf dem besten Weg, zu einem der prägenden Comic-Künstler seiner Generation zu werden.