Andreas Platthaus: Graphischer Prozess 75 Jahre nach Kriegsende

Jens Genehr erzählt in seinem Comic „Valentin“ von Schindern und Geschundenen auf der größten Baustelle im nationalsozialistischen Deutschland: dem U-Boot-Bunker in Bremen-Farge.

Zweite Auflage? Das schaffen nicht allzu viele deutschen Comics, und noch viel weniger solche mit einem anspruchsvollen, schweren Thema. Wie Jens Genehrs „Valentin“. Doch dieser große Band mit seinen 220 Seiten Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus hat genau das geschafft: zweite Auflage, nach nur wenigen Monaten. Dabei ist es auch noch das Debüt des 1990 geborenen Zeichners, und auch der Verlag Golden Press kann nicht zu den Bekannteren auf diesem Feld gezählt werden. Es handelt sich dabei um die Privatinitiative einer Bremer Buchhändlerin, die die Möglichkeiten globaler Verlagsproduktion (hier: preisgünstiger Druck in Litauen) nutzt, um Titel herauszubringen, die ihr am Herz liegen. Oder zu Herzen gehen.

Golden Shop heißt der Buchladen in Bremen, und er versteht sich als antifaschistisch. Das ist Jens Genehrs Comic zweifellos auch. Er ist entstanden aus der Beschäftigung des Zeichners auf und mit dem „Denkort Bunker Valentin“, jener riesigen Betonruine im heutigen Bremer Stadtteil Rekum, wo die Nazis ungestört vom alliierten Bombardement U-Boote bauen lassen wollten. Auf die Idee kamen sie erst relativ spät, 1943, und ehe der riesige Bunker fertig wurde, war der Krieg aus – was leider immer noch zwei Jahre gedauert hatte, in denen mehr als zehntausend Zwangsarbeiter auf der Baustelle geschunden wurden, wovon etwa 1700 starben. Die Hybris des ganzen Vorhabens erwies sich, als die angeblich undurchdringlichen Betondecken von 4,5 Meter Dicke bei einem alliierten Angriff gleich mehrfach von Sprengbomben  durchschlagen wurden. Daraufhin steigerte man die Dicke auf sieben Meter. Betonköpfen fällt eben immer nur noch mehr Beton ein.

Darauf waren sie aber auch noch stolz. Die Bauarbeiten wurden deshalb dokumentiert und zwar von einem Bremer Fotografen namens Johann Seubert. Man könnte das einen Glücksfall nennen, weil wir dadurch heute eine historische Quelle haben, die den Wahnsinn nur zu deutlich zeigt, aber es war auch eine Geschmackslosigkeit sondergleichen, weil natürlich doch fotografisch geschönt wurde, was auf der Baustalle passierte. Genehr macht es selbst in seinem Comic bisweilen zum Thema: wenn sich als Zwangsarbeiter eingesetzte Häftlinge aus dem KZ Bremen-Farge der besseren Bildwirkung wegen anders zu arrangieren haben oder aus dem Bereich der Kamera treten sollen. Dadurch, dass der Comic „Valentin“ einerseits vom Fotografen Seubert und andererseits von Raymond Portefaix erzählt, einem französischen Zwangsarbeiter, der seine Erlebnisse nach dem Krieg für ein Buch preisgegeben hat, bekommt man als Leser aber doch beide Seiten in den Blick.

Seuberts Aufnahmen, von denen zwei im wissenschaftliche Nachwort zum Comic abgedruckt sind, wirken technisch makellos, man könnte sie als Industriefotografie von hoher Qualität und Ästhetik bezeichnen. Dagegen ist Genehrs Comic in einem ungelenken Strich gehalten, der sich zwar im Laufe der Arbeit an der Geschichte deutlich professionalisiert hat, aber gerade in den graphischen Defiziten dem Thema insoweit gerecht wird, als man eine virtuose Darstellung für ähnlich zynisch hätte ansehen können wie die Fotografien von Seubert. In einem im Netz abrufbaren Video kann man sich eine Vorstellung von Genehrs Arbeit an „Valentin“ machen, während die Verlagsseite leider nur wenig Anschauung bietet.

Interessant ist, dass Genehr den Nachnamen des Fotografen wie überhaupt die aller deutschen Protagonisten mit dem jeweils ersten Buchstaben abkürzt (also Johann S. oder auch Edo M. für den Bauleiter des Bunkers). Im Nachwort dagegen werden vollständige Namen genannt. Der Comic suggeriert die Sprache von Anklageschriften im Strafprozess, und so etwas Ähnliches betreibt Genehr denn auch. Seine Nazis sind allerdings nicht nur charakterlich, sondern auch physiognomisch Scheusale, und derartige Schwarzweißmalerei im übertragenen Sinne (schwarzweiß ist der Comic auch konkret gezeichnet) fällt immer unangenehm auf, weil man sich damit Mitteln bedient, die totalitärer Propaganda entsprechen: Es gibt keine per se hässlichen Menschengruppen. Aber Genehr kann sich damit auf eine aufklärerische Ästhetik berufen, die auf George Grosz und John Heartfield zurückgeht. Nur war die noch in historio-graphischer Unschuld entstanden, nämlich vor den Exzessen der NS-Bildpropaganda.

„Valentin“ ist aber dennoch eine faszinierende Lektüre, weil die Person von Johann S. in ihrer opportunistischen Abgründigkeit von Genehr geradezu sachlich vorgestellt und nicht einfach denunziert wird. Es gibt Alltagsszenen aus dem deutschen Leben  im Krieg und gleich neben der Höllenbaustelle, bei denen sich einem der Magen umdreht, weil da so banal das gute Leben in einer Diktatur gesucht wird. Und zugleich bekommt man Szenen aus dem Alltag der Zwangsarbeiter vorgeführt, die gerade in der bisweilen linkischen Darstellung Genehrs an manche der raren Bildzeugnisse von Häftlingshand aus den KZs erinnern: Wie hätte man das Grauen im Lager anders festhalten sollen als verzerrt? Es war ja ein Leben, das aus allen Fugen geraten war.

Dass Raymond Portefaix überleben wird, ist von Beginn an klar, weil Genehr in einem Prolog die Arbeit an seinem Comic selbst ins Bild setzt, inklusive der Anregung. Der Dramatik des Geschehens tut das keinen Abbruch. Und es führt zu einem eindrucksvollen Schlussbild, nachdem der Comic auf dem Frontispiz mit einer Frontalansicht von Johann S. eröffnet worden war, auf der er uns aufnimmt und damit gleichsam als aktive Elemente auszuschalten scheint. Am Ende aber steht eine Nahansicht von Raymond Portefaix bei einem Gespräch über seinen Zeugenbericht, lange nach dem Krieg, und durch seine Sätze wird erst die eigentliche Legitimation von Jens Genehrs Comic geschaffen. Das Panel übrigens, in dem Portefaix den Band beendet, ist unten schräg angeschnitten – als wäre der Überlebende immer noch im Bereich eines Fallbeils, das ihn das Leben kosten kann. Raymond Portefaix starb 1995 mit 78 Jahren in Paris. Sein Erinnerungsbuch trägt den Titel „Hortensien in Farge“ und erschien im Jahr seines Todes schließlich auch auf Deutsch. Er hat es noch erlebt.

Andreas Platthaus: Gegen diesen Graf ist Alan Turing ein Normalo

„Rummelsdorf“, das neueste Spin-off der Comicserie „Spirou“, widmet sich im ersten Band einer prominenten Nebenfigur und setzt gleich auf mehrere sichere Erfolgsfaktoren, von denen einer lautet: Nazi-Zeit. Trotzdem macht die Lektüre Freude.

Keine andere europäische Comicserie treibt die Diversifikation ihres Inhalts so konsequent voran wie „Spirou“. „Asterix“ und „Tintin“ (Tim und Struppi) mögen erfolg- und einflussreicher sein, aber die 1938 von Rob-Vel für den belgischen Dupuis-Verlag begründeten Abenteuer des Brüsseler Hotelpagen Spirou haben mit André Franquins Arbeit an der Serie von 1948 bis 1968 einen Meilenstein der Comicgeschichte gesetzt, und immer noch erscheint das gleichnamige Magazin, während das Konkurrenzprodukt „Tintin“ längst Geschichte ist und es bei „Asterix“ nur Versuche gab, eine eigenständige Zeitschrift zu begründen. Bei „Spirou“ legte man das Augenmerk immer auf Synergieeffekte. Das war weltanschaulich darin begründet, dass Charles Dupuis sich als Verleger auch als Propagandist katholischer Werte verstand und deshalb früh die Popularität seiner Figuren als gesellschaftliche Werbeträger nutzte. Bald waren sie überall.

In den achtziger und neunziger Jahre wurde „Der kleine Spirou“ ein Vorreiter jener verhängnisvollen Welle von infantilen Kindheitsversionen etablierter Comic-Helden, der sich selbst Albert Uderzo nicht verschloss, als er 2009, kurz vor Ultimo seiner Zeichnerkarriere, noch den beschämenden Band „Wie Obelix als kleines Kind in den Zaubertrank geplumpst ist“ herausbrachte. Das unterbot sogar das Niveau der „Disney Babys“ oder Achdés „Lucky Kid“ mit dem kindlichen Lucky Luke. „Der kleine Spirou“ dagegen hatte immerhin anfangs den Reiz des Neuen. Als man kurz danach begann, prominente Zeichner einzuladen, einzelne „Spirou“-Alben in ihrem charakteristischen Stil zu gestalten, hatte man bei Dupuis noch ein Erfolgsrezept gefunden. Der bisher größte Hit sind die Alben von Émile Bravo über Spirous junge Jahre im Zweiten Weltkrieg geworden – erwachsene Geschichten über einen jungen Mann.

2017 begann man dann auch noch damit, beliebte Nebenfiguren aus den „Spirou“-Abenteuern zu Protagonisten eigener Reihen zu machen. Darauf war Morris schon viel früher gekommen, als er dem tölpelhaften Hund Rantanplan aus „Lucky Luke“ eine eigene Reihe widmete, aber originellerweise wählte man im Hause Dupuis einen Schurken als ersten Spin-off-Helden: Zorglup, in Deutschland bekannt als Zyklotrop. Nun ist auch diese Idee nicht unbekannt; im amerikanischen Superheldengeschäft ist der Joker, Batmans Nemesis, längst eine erfolgreiche eigene Marke, aber dass die Zyklotrop-Geschichten so gut ankommen würden, hatte niemand gedacht. Drei Bände gibt es mittlerweile, auf Deutsch wie alle „Spirou“-Alben bei Carlsen verlegt. Und nun kommt schon die zweite Personalauskopplung: „Rummelsdorf“.

Das ist, jeder „Spirou“-Leser weiß es, die deutsche Version des Familiennamens und -sitzes jenes wissenschaftlich begabten, aber schusseligen Grafen, der im Französischen der Conte de Champignac heißt. Wobei der vollständige deutsche Titel der Serie „Pankratius Hieronymus Ladislaus Adalbert, Graf von Rummelsdorf“ lautet – so viel Zeit muss sein, auch wenn man die ganze Vornamenskette auf dem Titelblatt mit der Lupe suchen muss und die französische Originalbenennung aus Platzgründen in diesem Blog jetzt einfach mal entfällt. Das von dem mir bislang nicht aufgefallenen Autorenduo Béka (das sind die fürs Szenario verantwortlichen Bertrand Escaich und Caroline Roque) und dem Zeichner David Etien erzählte Abenteuer verbindet zwei bereits bewährte Prinzipien: Auskopplung einer beliebten Nebenfigur und Verjüngung, denn wir erleben den Grafen von Rummelsdorf als jungen Adeligen, bevor er die Bekanntschaft von Spirou macht.

Durch diese zeitliche Vorverlagerung kommt gleich noch ein drittes Erfolgsmoment dazu: die Nazi-Zeit, wie sie auch Émile Bravo mit seinen „Spirou“-Abenteuern zum Handlungsrahmen wählte, ehe Olivier Schwartz und Yann mit den ihren nachzogen. Das Prickeln, wenn eine unschuldige Comicfigur in die übelste Episode der europäischen Geschichte versetzt wird, setzt unvermeidlich ein, und warum sollte man sich dieses Verkaufsargument entgehen lassen? Zumal das ja eine originäre „Spirou“-Idee war, die schon vor mehr als dreißig Jahren von Yves Chaland entwickelt, aber damals noch nicht ausgeführt worden war.

Genug des name dropping, hinein in die erste „Rummelsdorf“-Geschichte namens „Enigma“. Wie bei diesem Titel kaum anders zu erwarten, geht es um die berühmte gleichnamige deutsche Codiermaschine, der schon etliche Bücher und Filme gewidmet wurden,. Aber offenbar noch kein Comic. Nachdem die deutschen Besatzungstruppen im Jahr 1940 auch Schloss Rummelsdorf erreicht haben, setzt sich der Graf nach England ab, um sich jenem Wissenschaftlerteam im Bletchley Park anzuschließen, das dann auch tatsächlich das Rätsel der Enigma knacken sollte. Inwieweit das den Kriegsverlauf beeinflusste, darüber streiten die Gelehrten immer noch. Nicht aber darüber, dass vor allem die Arbeit des Mathematikers Alan Turing bei der damaligen Decodierung einen entscheidenden Schritt bei der Computerentwicklung darstellte.

Selbstverständlich tritt Turing im Comic auf, und man mag es einem eher auf Jugendliche abzielenden Konzept nachsehen, dass Béka die heiklen Fragen, die mit seiner Homosexualität und der beschämenden Ausgrenzung, die man ihm deswegen angedeihen ließ, zusammenhängen, in ihrem „Rummelsdorf“-Szenario beiseitelassen. Immerhin wird der Comic-Turing als Sonderling charakterisiert, aber neben dem spleenigen Grafen fällt das gar nicht weiter auf. Deutlich markanter ist ohnehin die dritte Hauptfigur des Albums, die fiktive schottische Linguistin Blair Mackenzie, in die sich Rummelsdorf verliebt, was zu einer harmlosen Nacktszene führt, mit der ich in der Welt von „Spirou“ aber doch nicht gerechnet hatte. Nachdem jedoch Émile Bravo bereits so viele Grenzen dieses Kosmos verschoben hat, darf wohl auch mal der Autorennachwuchs ran, ehe er auch dieses Tabu noch bricht.

Gezeichnet ist das Ganze nicht im klassischen Marcinelle-Stil des Dupuis-Verlags, sondern eher wie von Régis Loisel und Jean-Louis Tripp in deren Serie „Das Nest“, also physiognomisch naturgetreuer, aber dennoch schwungvoll-cartoonesk (eine Leseprobe der ersten Seiten findet sich hier). Mit Franquin hat das indes gar nichts mehr zu tun; die Actionbilder vom Bombenabwurf der Deutschen Luftwaffe über London könnten eher von dem Realisten William Vance stammen. Erstaunlicherweise hat mich der Band aber dennoch amüsiert, weil er sich wunderbar naiv eine der seltsamsten Episoden des Zweiten Weltkriegs aneignet und in den vertrauten „Spirou“-Erzählraum überführt. Spaß ist ja nicht das Schlechteste beim Comiclesen – vor allem, wenn man bedenkt, wie wenig man davon bei den jüngeren „Spirou“-Alben der Hauptserie hatte.