Andreas Platthaus: Die Kunst des Künstlercomics

Büke Schwarz zeichnet mit „Jein“ eine beeindruckende autobiographisch grundierte Erzählung. Das Private wird politisch und umgekehrt. Der deutsche Comic hat ein neues Gesicht.

Es gibt Debüts, die verblüffen. „Jein“ von Büke Schwarz ist so eines. Der Comic der 1988 geborenen Berlinerin erscheint beim Jaja Verlag, der sich in den letzten Jahren mit Geschick und Geschmack mit kleinen, aber feinen Publikationen in die vorderste Reihe der deutschen Comic-Häuser vorgearbeitet hat, doch einen so dicken Band wie „Jein“ hatte man bislang weder herausgebracht noch hätte ich ihn dort vermutet. 220 fast albengroße Seiten zählt die Geschichte, dazu kommen sieben Seiten (meist entbehrliche) Anmerkungen zu Details der Handlung. Das Geschehen umfasst, ganz wie der Klappentext verheißt, „Kultur, Politik, Identität, Kunst und den ganzen Rest“.

Was an „Jein“ vor allem interessiert, ist der ganze Rest, den man auch einfach „Privates“ nennen könnte. Dieser Band ist eine der schönsten Selbstbetrachtungen, die der deutsche Comic hervorgebracht hat. Kein Wunder, dass mit Ulli Lust und Barbara Yelin just zwei Zeichnerinnen vom Jaja Verlag mit Lobesworten über „Jein“ zitiert werden, die mit „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ und „Irmina“ die Maßstäbe auf diesem Feld gesetzt haben.

Wie nahe das Geschehen von „Jein“ am realen Leben von Büke Schwarz ist, vermag ich nicht zu sagen, nur zu vermuten. Mit ihrer Protagonistin Evâ Wolf teilt sie den biographischen Hintergrund als Kind einer türkischen Familie, das seinen deutschen Nachnamen durch die zweite Ehe ihrer Mutter bekam. Schwarz ist auch Künstlerin wie Evâ Wolf, lebt wie diese in Berlin, und dass ihr gezeichnetes Selbstporträt auf der Umschlagklappe einige Ähnlichkeit mit ihrer Hauptfigur hat, ist unübersehbar. Sie kennt also Szenerie und Lebensumstände ihrer Evâ Wolf aus eigener Anschauung. Und das trägt zur Eindringlichkeit von „Jein“ entscheidend bei – egal, wie authentisch die Abläufe der Handlung sein mögen.

Worum geht es? Evâ Wolf bekommt 2017 von einer Berliner Kunstmäzenin (ein phantastisches Porträt dieses Typs) einen Preis zugesprochen, der mit einer Ausstellung verbunden ist, die sie gemeinsam mit drei weiteren Preisträgern durchführen soll. In die Vorbereitung fällt das türkische Verfassungsreferendum vom 16. April 2017, in dem eine knappe Mehrheit der Wähler die von Staatspräsident Erdogan vorgeschlagenen Reformen billigte, mit denen dessen Macht gefestigt wurde.

Unter den in Deutschland lebenden Türken war die Zustimmung größer als in der Türkei selbst, was für liberale Landsleute oder Deutsche wie Büke Schwarz, die sich dem Land und seiner Kultur biographisch nahefühlen, schwer zu ertragen war. Entsprechend schwer nimmt denn auch Evâ Wolf den Wahlausgang und vor allem die das Ergebnis feiernden Türken in Berlin. In den unterschiedlichen künstlerischen Konzepten ihrer Kollegen wird bei der Vorbereitung und Durchführung der Gemeinschaftsausstellung darüberhinaus für Evâ die Differenz in der Verquickung von Politischem und Ästhetischem sichtbar.

Ein großes Thema: „Kultur, Politik, Identität, Kunst“ eben. Wo bleibt da noch Platz für den „ganzen Rest“? Der besteht just in den Reaktionen von Evâ Wolf, in den Folgen, die der Ärger über das Referendum für ihre Arbeit und ihr Privatleben hat – bei Letzterem allerdings betrifft die Enttäuschung mehr den Umgang mit ihrer Mutter als den mit ihrem Freund Jonas. „Jein“ als Titel verdankt sich nicht nur dem im Comic für die Gemeinschaftsausstellung gewählten Titel, sondern viel mehr der Zerrissenheit der Protagonistin zischen Privatem und Politik, Ästhetik und Engagement, vor allem aber Deutschland und der Türkei. Das wird auf dem Titelblatt des Bands ganz deutlich, dem in großer, aber nahezu unsichtbarer Blindprägung die türkischen Worte „evet“ (ja) und „hayir“ (nein) eingedruckt sind, angeordnet genau unter dem deutschen Titelschriftzug „Jein“, links und rechts einer Bruchlinie, die sich von oben bis unten durch die Zeichnung zieht und das Covermotiv in eine Berliner und eine Istanbuler Hälfte teilt. (Auf der Seite des Verlags kann man neben dem Titelblatt auch einige Seiten des Comichandlung sehen – und ein gezeichnetes Autorinnenporträt, das deutlich weniger Ähnlichkeit mit Evâ Wolf aufweist als das im Buch.)

Spaltung also ist das Thema, und zwar eine Spaltung, die sich durch Evâ Wolfs ganzes Selbstverständnis zieht. Dass davon ihre Beziehung zu Jonas unberührt bleibt, ist ein Schwachpunkt der Handlung. Auch das nur halb offene Ende, das die Künstlerin beim Abflug nach Istanbul zeigt, wo sie sich nun engagieren will, ist arg plakativ angesichts dessen, dass es eben ein offenes Ende sein soll. Evâs von der Mutter geschiedener Vater wird präsentiert wie das Klischeebild eines türkischen Nationalisten. Die radikale Reduktion auf die Protagonistin, wenn es um Ambivalenzen geht, ist die große Schwäche von „Jein“.

Doch es gibt auch große Stärken. Das zweite Kapitel etwa, „Manifesto“ betitelt, nach einem Essayfilm von Julian Rosefeldt mit Cate Blanchett in der Hauptrolle. Etwa genauer Beobachtetes, komischer Erzähltes als die Szene von Evâ Wolfs Kinobesuch dieses Werks habe ich lange nicht als Comic gelesen. Es ist eine grandiose Kurzgeschichte, nur sechs Seiten im Kern, und dann noch zwei weitere, die die isolierte Episode in die große Handlung einbinden – und auf diesen beiden Zusatzseiten zeichnet Büke Schwarz, als hätte sie bei der Arbeit daran gerade Catherine Meurisse für sich entdeckt. Ein Genuss, stilistisch und inhaltlich!

Daneben versteht es Büke Schwarz auch meisterhaft, die formalen Prinzipien des Comics für ihre Charakterisierung von Evâ Wolf zu nutzen. Panelränder etwa können aus Schutzbedürfnis von der Protagonistin einfach eingefaltet und um sie herum geschlungen werden – wie eine isolierende Papierschicht. Es gibt Einzelseiten, auf denen wir einfach nur den Überlegungen der Künstlerin bei der Arbeit zusehen, statt sie in Sprechblasen ausgebreitet zu bekommen. Genau so muss man im Comic erzählen, wenn man nicht einfach nur illustrierte Thesenprosa verfassen will. Und dass die Geschichte bis auf die farbig aquarellierten doppelseitigen Kapitelbezeichnungen ganz in Schwarzweiß erzählt wird, obwohl angesichts der – bemerkenswerterweise nie genau gezeigten – Malerei von Evâ Wolf Farbe nahegelegen hätte, zeigt Büke Schwarz’ dezidiertes Distinktionsbedürfnis bei ihren eigenen zwei Ausdrucksformen. Die Kapitelüberschriften drehen übrigens das Verhältnis zwischen Deutsch und Türkisch vom Titelblatt herum: Nun stehen die türkischen Formulierungen groß oben, darunter dann kleiner die deutschen.

Büke Schwarz hat ein riesiges Comic-Talent, und manchmal fühlt man sich an Hamed Eshrats Band „Venustransit“ erinnert, der 2015 erschien. Nicht, weil auch da ein Deutscher migrantischer Abstammung eine subtil Kunst und Privates verbindende autobiographisch grundierte Geschichte erzählte, sondern weil man beim Lesen spürt, dass zwar alles in diese beiden Bände hineingepackt wurde, was die jeweiligen Autoren aktuell bewegte, und trotzdem noch Ideen für vieles weitere darin angelegt sind.

Andererseits hat es immer wieder mehr oder minder beeindruckende Comics gegeben, die von Künstlern gezeichnet wurden – berühmtestes Beispiel ist natürlich „Traum und Lüge Francos“ von Picasso, aber seit einigen Jahren kennen wir auch Gerhard Richters „Comic Strip“ von 1962. In der gegenwärtig jungen Künstlergeneration – Menschen in einem Alter wie Büke Schwarz – sind solche Experimente schon deshalb gängiger, weil sie viel selbstverständlicher mit Comics aufgewachsen sind: als selbst künstlerische Ausdrucksformen, nicht einfach nur als Gegenkultur, wie es die Künstlergenerationen davor empfunden haben. Dennoch besteht das Risiko, dass Comics wie „Jein“ einmalige Arbeiten bleiben, Momentaufnahmen aus einer Stimmung heraus – wenn auch die Anfertigung einer solchen „Momentaufnahme“ Monate erfordert. Es wäre ein Jammer, wenn Büke Schwarz sich nach „Jein“ wieder ganz ihrer „normalen“ Kunst widmen würde. Auch wenn sie augenblicklich sicher denken wird, sie hätte alles in ihrem Comic erzählt, was ihr auf den Nägeln brennt. „Jein“ lässt eines ganz deutlich spüren: Das hat sie nicht.