Andreas Platthaus: Bastien Vivès erstaunliches Jugendporträt „Eine Schwester“

Seit „Der Geschmack von Chlor“, dem Debüt des 1984 geborenen französischern Comiczeichners Bastien Vivès, hatte ich nichts wirklich Überzeugendes mehr von ihm gelesen, und das ist immerhin neun Jahre her – neun Jahre, in denen Vivès einen Ausstoß an neuen Titeln geschafft hat, der fast schon Dimensionen eines Joann Sfar anzunehmen schien. Aber die betonte Jugendlichkeit seiner Geschichten – in dem Sinne, dass sie vor allem ein jugendliches Publikum erreichen sollten, eines, das mit Computerspielen, Smartphones und Youtube aufgewachsen ist – machte mir als viel Älterem diese Erzählungen suspekt: Biederte sich da nicht jemand an, machte sich jünger, als er es selbst war, und zeichnete Comics, die nur noch modisch waren? Ja, so sah ich sie, auch die allseits gefeierten wie „Polina“.

Erotik spielt bei Vivès eine wichtige Rolle, und die Zurschaustellung und Überbetonung weiblicher Formen hat etwas Pubertäres. Das ist auch bei „Eine Schwester“, Vivès’ neuestem auf Deutsch erschienenen Comic (wie immer beim Reprodukt Verlag, der seinen Autoren geradezu Nibelungentreue erweist, aber diesmal hat es sich wirklich gelohnt), nicht anders, aber hier passt das zur Handlung. Und hier stimmt überhaupt alles; zu meiner Überraschung, denn ich ging mit leichtem Widerwillen an die Lektüre, weil sich da einer die Legitimation für seine voyeuristischen Gelüste auf den Leib geschrieben zu haben schien: eine Geschichte um einen Dreizehnjährigen, der im Urlaub von einer Sechzehnjährigen in die Liebe eingeführt wird. Doch das knapp mehr als zweihundertseitige Schwarzweißalbum erwies sich als Meisterwerk, erzählerisch wie psychologisch.

Zeichnerisch ist es Vivès ohnehin gelungen, einen ganz eigenen Stil zu etablieren (Leseprobe), inspiriert von Manga-Linienführung, aber doch europäisch in der Figurenzeichnung, bisweilen auch mit karikaturesken Darstellungen, etwa im neuen Album einem bösen Jungen am Strand, der wie ein Lovecraftscher Fischmensch dargestellt ist. Vivès scheut keine Klischeedarstellungen, und Kitsch ist ihm sogar ein Hochgenuss. Aber das Pathos junger Liebe ist in „Eine Schwester“ ein Antidot zum Kitsch.

Das Geschehen spielt sich auf der Île-aux-moines ab, einer beliebten Ferieninsel im bretonischen Golf von Morbihan, wo die Eltern des dreizehnjährigen Antoine ein Häuschen für den Sommerurlaub haben. Mit von der Partie sind natürlich der zehnjährige Bruder Titi und ganz unerwartet eine Freundin der Eltern, die gerade eine Fehlgeburt erlitten hat und deshalb Ablenkung sucht, samt ihrer sechzehnjährigen Tochter Hélène. Sie wird platzbedingt im Zimmer der beiden Jungen untergebracht, und alsbald hat Antoine nur noch Augen für die junge Frau, die diese Neugier genießt und anspornt.

Daraus hätte ein Softporno werden können, aber Vivès erzählt und zeichnet zwar explizit, spielt aber souverän mit dem kindlichen Blick – und zwar bei beiden Beteiligten der jungen Liebe, denn auch Hélène tut mehr so, also ob sie die Erfahrene wäre, als dass sie es ist. Die wechselseitige Faszination, von der die Erwachsenen aber bitte nichts merken mögen, ist geradezu zärtlich beobachtet, ohne große Katastrophen – bis auf eine, die ganz am Schluss völlig überraschend kommt und mich deshalb endgültig davon überzeugte, dass Bastien Vivès hier nach „Der Geschmack von Chlor“ sein zweites Hauptwerk abgeliefert hat.

Die Stimmung der Landschaft in der Südbretagne, wo ich als nur wenig älterer Junge als Antoine einen Familienurlaub erlebt habe, die seltsam retardierende Dynamik einer Jugendlichengruppe, der neutrale kindliche Blick auf die Erwachsenen bei höchster Sensibilität für das Verhalten der anderen Kinder – all das fängt Vivès mit einer Präzision und Beschreibungsgenauigkeit ein, die ihresgleichen sucht. Und da der Hauptreiz der Lektüre in der scheinbaren Konsequenz des Handlungsverlaufs liegt, der aber immer wieder überraschende, gleichwohl nie irritierende Wendungen nimmt, bis hin zur bereits erwähnten letzten, will ich hier weniger inhaltlich erzählen, als ich es sonst tue. Diese im besten Sinne generationenübergreifend begeisternde Geschichte porträtiert eben keine jeunesse dorée, also keine „vergoldete“, mithin blasierte, verwöhnte Jugend, sondern eine jeunesse d’or – eine Jugend aus Gold. Mit Figuren, die ein goldenes Herz haben. Alle.

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