Andreas Platthaus: Welche Farbe hat Sex?

Das Zeichnerinnenkollektiv Spring widmet seine diesjährige Anthologie einem Thema, bei dem der männliche Blick als selbstverständlich gilt. Die Resultate zeigen, dass auch das ein Klischee ist.

Sex sells. Diese Verkäuferweisheit gilt natürlich auch für Comics. Die frühesten Beispiele für den sichtbaren Massen-Effekt von schlüpfrigen Comicdarstellungen waren die in den dreißiger und vierziger Jahren produzierten amerikanischen „Tijuana Bibles“, kleinformatige billig gedruckte Hefte, in denen bekannte Comic-Strip-Helden (die Bezeichnung ihres Genres verpflichtete) alle Hüllen abwarfen und munter mit anatomisch höchst realistisch gezeichneten Frauen kopulierten. Natürlich waren das Raubdrucke, denn niemals hätten Disney, Hearst, Chicago Tribune Syndicate und wie die Rechteinhaber alle hießen, gestattet, ihre familientauglichen Helden für frivole Spiele herzugeben. Angeblich wurden die Heftchen aus Mexiko in die Vereinigten Staaten geschmuggelt – daher ihr Name –, aber das gehört mit zum Mythos und sollte nur den Charakter ihrer Illegalität betonen, was die Verkaufschancen unterm Ladentisch noch einmal erhöhte. Und als Zielpublikum waren nur Männer im Visier. Wie man auch vermuten darf, dass die Zeichner alles Männer waren. Genau weiß man es aber nicht; die Forschung hat zwar schon viel über die Tijuana Bibles in Erfahrung gebracht, aber das seinerzeit zweckdienliche Anonym ihrer Schöpfer ist immer noch weitgehend gewahrt geblieben.

Das Sex sich gut verkauft, weiß natürlich auch das Spring-Kollektiv. Aber man sollte diesem seit anderthalb Jahrzehnten bestehenden lockeren Verbund von Comiczeichnerinnen nicht unterstellen, dass das der Hauptgrund war, ihr neues Jahresheft (im Mairisch Verlag), schon das sechzehnte seiner Art, dem Thema „Sex“ zu widmen. Vielmehr wollten die diesmal vierzehn beteiligten Zeichnerinnen einen anderen Blick auf die körperliche Liebe werfen: einen dezidiert weiblichen und damit weniger voyeuristischen, wobei es an Nackt- und Beischlafszenen nicht mangelt im 250 Seiten starken Band. Aber es tauchen sehr viel mehr Männer als Objekte der Betrachtung auf, als man in den üblichen Erotik- oder Sexcomics erwarten würde, wobei die Ausübung des Sexualaktes mediumbedingt schon immer wichtig war (Anschaulichkeit begünstigt vor allem Pornographie) – und damit auch eine gesicherte Präsenz von sexuelle aktiven Männern, deren Geschlechtsorgane durchaus prominent ins Bild gesetzt werden. Gerade weil Sex-Comics bis in die sechziger Jahre nur illegal erworben werden konnte, riskierte man besonders viel Drastik. Das kunstgeschichtliche (und kommerzielle) Äquivalent dazu sind die japanischen Shunga-Holzschnitte.

Aber in Spring 16 geht es nicht um Lusterweckung (als Begleiteffekt ist sie indes wohl durchaus einkalkuliert, siehe Leseproben). Die Hamburger Zeichnerin Moki, mittlerweile eine Veteranin bei Spring, setzt mit der ersten Bildergeschichte, „Mugelkenschen“ (als Variation auf das bekannte platonische Modell der Kugelmenschen, aus deren Aufspaltung Platon die Liebe von Paaren erklärt), gleich den anspruchsvollen Ton: Kulturell sollte man schon ein paar Kenntnisse oder zumindest Interesse mitbringen, wenn man das Sex-Heft von Spring liest, und die spezifische Niedlichkeit des Moki-Stils tut ein Übriges dazu, dass die über vier Seiten verteilte Bebilderung der Liebe nichts Unangenehmes oder gar Aggressives hat.. Der spätere Moki-Beitrag „ Where I End and You Begin“ im selben Band ist da weitaus realistisch-rücksichtsloser.

Es hat eine schöne Tradition, dass die Spring-Hefte mit einer Zusatzfarbe ausgestattet sind, diesmal ist es – welche Überraschung! – rosa. Das ist eine dumme Idee, denn in Birgit Weyhes Comic „Gendering Gustavito“, dem mit 26 Seiten umfangreichsten der Anthologie, wird zu Recht kräftig gegen die fixe sexualisierte Assoziation von Rosa mit Frauen/Mädchen gewettert, aber dann übernimmt das ganze Heft diese Konnotation, augenzwinkermd selbstverständlich, aber ironisch sind die Geschichten in Spring 16 gerade nicht, die Zeichnerinnen nehmen das Thema ernst, indem sie es auf vielfältige Weise dekonstruieren – aber eben nicht durch Ironie. Da wäre eine andere Farbwahl nicht nur konsequent, sondern auch wünschenswert gewesen, den dadurch möglichen ästhetischen Überraschungsmoment hat man vertan. Schade.

Das Stilspektrum und das bei Spring schon seit einigen Ausgaben immer interessanter werdende Verhältnis von Comic zu Illustration als erzählende Formen versöhnt dann wieder mit dieser Enttäuschung. Die wie in Ateliersitzungen entstandenen Skizzenblätter wirkenden Bleistiftzeichnungen von marialuisa haben graphisch gar nichts gemein mit den bewusst simple gehaltenen Comics von Aisha Franz oder den piktogrammatisch stilisierten Bildern von Stephanie Wunderlich (die mit ihrer „Adult Corner“ den plakativsten pornographischen Beitrag liefert, während ihr zweiter Beitrag fürs Heft, „Enden als jungfräulicher Freak“, eine witzige Kindheitserinnerung ist. Wie schon bei Moki könnte man vermuten, dass der Doppeleinsatz im Band eine Kompensation für das Wagnis darstellt, das diese beiden Zeichnerinnen mit ihren expliziten Darstellungen eingegangen sind, aber auch marialuisa hat zwei Geschichten in Heft 16, und davon ist keine provokativ, während Nina Pagalies mit „Viva la Vulva“ sehr direkt ist (obwohl das nach dem Erfolg von Liv Strömquists Comic „Der Ursprung der Welt“ wohl niemanden mehr irritieren dürfte).

Die neue Spring-Ausgabe will Sex im Comic auf neue Art inszenieren: durchaus als Blickfang, aber auf analytische Weise, also aus gesellschaftlicher, ökonomischer und eben weiblicher Sicht. Dass dabei das erzählerische Element gegenüber der offenherzigen Darstellung überwöge, kann man nicht einmal für alle Beiträge behaupten. Aber nach Ulli Lusts vor zwei Jahren erschienenem „Wie ich versuchte, ein besserer Mensch zu sein“ ist diese Anthologie schon der zweite hochinteressante weibliche Comic-Beitrag aus unserem Sprachgebiet zum Thema Sexualität. Kein Zufall, denn nirgendwo sonst auf der Welt haben Frauen derzeit eine solche Bedeutung für anspruchsvolle Comics wie in Deutschland. Wer will, darf das „sexy“ nennen. Solange damit der Reiz des Lesens gemeint ist.

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