Wiedergeburt oder Diebstahl?
von Andreas Platthaus
Der Schweizer Zeichner Frederik Peeters beginnt seine neue Science-Fiction-Serie „Aâma“. Alles sieht aus wie bei Moebius. Das ist wunderschön und bedauerlich zugleich.
Am Anfang steht ein Mann auf dem Tiefpunkt. Verloc Nim hat alles verloren: Frau, Tochter, väterliches Geschäft, vor allem aber seine Selbstachtung. In der Weltraummetropole Radiant vegetiert er im Drogenrausch vor sich hin. Bis sein Bruder Conrad mit dem Kampfroboter Churchill auftaucht und ihn auf eine Mission ans andere Ende des Universums mitnimmt – angeblich, um ihn aus der Gosse zu holen, doch dahinter steckt wohl noch etwas anderes.
Klassische Science-Fiction. Es geht um Experimente auf fernen Planeten, die von dubiosen Firmen durchgeführt werden, ohne dass die dortigen Kolonisten etwas davon wüssten. Die geheimnisvolle Substanz, um die sich alles dreht, heißt Aâma. Was sie kann, wird im ersten Band der nach ihr benannten Serie von Frederic Peeters noch nicht verraten, obwohl er mit mehr als achtzig Seiten einen stattlichen Umfang erreicht. Es wird jedoch hier schon klar, dass man für Aâma über Leichen geht.
Man kann diesen ersten Teil mit dem völlig sinnlosen maktschreierischen Titel „Der Geruch von heißem Staub“ nicht lesen, ohne an die „John Difool“-Serie von Alejandro Jodorowsky und Moebius zu denken. Das ist von Peeters auch so gewollt. Nicht nur der graphische Stil orientiert sich klar an der unverwechselbaren Moebius-Ästhetik (wie sollte man das auch vermieden können, wo doch alles, was Science-Fiction heißt, seit vierzig Jahren im Bann dieser Phantasiewelten steht?), auch die Figuren- und Handlungskonstellationen nehmen jenes Muster auf, das Jodorowsky mit seiner mythisch angehauchten Erzählung vom geheimnisvollen Inkal, der im Zentrum der sechs klassischen „John Difool“-Bände steht, vorgegeben hat.
Churchill etwa, der gorillaähnliche Roboter, hat Statur und Eigenschaften des Metabarons, des coolen Kämpfers aus „John Difool“. Natürlich fügt Peeters einiges hinzu, auch etlichen Humor. Wenn Churchill permanent Zigarren schmaucht, dann ist das ein augenzwinkernder Verweis auf das historische Namensvorbild. Und auch Verloc ist nicht einfach John, obwohl die jeweilige Loser-Attitüde sich extrem ähnelt. Dem berühmten Sturz John Difools, der das Abenteuer um den Inkal einleitet, entspricht nun das Erwachen von Verloc auf einem ihm fremden Planeten, nachdem er seine Erinnerungen verloren hat. Im Laufe von „Aâma“ werden wir dann darüber aufgeklärt, was dieser Situation vorausging. Die chronologischen Sprünge immerhin sind bei Peeters originell.
Es ist schon so: Die Freude über das spezifische Moebius-Gefühl bei der Lektüre überwiegt. Zumal die Versuche von Jodorowsky, den legendären Stoff von „John Difool“ durch Pre- und Sequels weiterzuspinnen, grässliche Resultat gezeitigt hat. Er hielt sich nicht mehr an die eigene Idee, die ja im Namen „Difool“, in dem der Narr steckt, ihr Programm hatte. Alles wurde immer metaphysischer und vor allem immer weniger komisch. Mit dem Tod von Moebius im März 2012 glaubte man allen Charme verloren, denn seine Zeichnernachfolger lieferten für die Serie nurmehr Dutzendware.
Da ist Peeters von ganz anderem Kaliber. Obwohl auch hier eine traumatisierte Seele im Zentrum steht, ist ihm mit seiner Figurenmenagerie ein Meisterstück geglückt, vor allem mit den skurrilen, in ihrer Komplexität mutmaßlich noch gar nicht richtig einzuschätzenden, Kolonisten auf dem isolierten Planeten Ona(ji), wo man die Aâma-Experimente in Gang brachte. Da tritt ein Ensemble auf, das in seiner physiognomischen wie kulturgeschichtlichen Vielgestalt nur in Alan Moores und Kevin O’Neills „League of Extraordinary Gentlemen“ eine Comic-Parallele hat. Allein deshalb schon kann ich die Publikation des zweiten Bandes (und hoffentlich noch etlicher weiterer) kaum erwarten.
Und doch bleibt auch das schale Gefühl, einem anerkanntermaßen talentierten Comicerzähler dabei zuzusehen, wie er lieber den Bestand plündert, als neue Ideen zu entwickeln. Seit der 1974 geborene Peeters mit „Blaue Pillen“ vor zehn Jahren seinen Durchbruch schaffte, hat er diverse Comics geschrieben, einige davon auch selbst gezeichnet (wie jetzt eben „Aâma“), andere für sich schreiben lassen, aber nie mehr hat er an die Tiefe jenes Debüts anknüpfen können, das eine psychologisch dichte Krankheitsgeschichte erzählte. Wenn er nun beim Besten stiehlt, was die Comicgeschichte im Science-Fiction-Genre zu bieten hat, ist das zwar verständlich, aber auch enttäuschend. Denn Peeters kann mehr.
Sicher kann er nicht so viel wie Moebius. Wobei es schon bemerkenswert ist, wie geschickt er als Zeichner auf jenem schmalen Grat zwischen europäischer und amerikanischer Ästhetik zu wandeln versteht, den Moebius überhaupt erst entdeckt hat. Ihn dabei zu beobachten, ist faszinierend. Und dass Peeters noch einmal eine derart komplexe Geschichte gelingen würde, war auch nicht unbedingt zu erwarten. Wenn er sich in den Folgebänden erzählerisch freischwämme, könnte man ihm die graphischen Anleihen verzeihen. Denn über Moebius kann man eh nicht mehr hinaus, über Jodorowsky dagegen allemal.