Andreas Platthaus: Sturm in der Off Season

James Sturm kehrt fast zehn Jahre nach „Markttag“ mit einem erstaunlichen Comic zurück: „Off Season“ erzählt vom privaten Desaster einer amerikanischen Ehe im Zeichen der Präsidentschaft von Donald Trump.

Die Bedeutung des 1965 geborenen Comiczeichner James Sturm für sein Metier kann man gar nicht überschätzen. Nicht nur, weil er mit „The Golem’s Mighty Swing“ und „Market Day“ (auf Deutsch bei Reprodukt als „Markttag“ erschienen) zwei großartige Comics über amerikanisch-jüdische Geschichte gezeichnet hat, sondern mehr noch, weil Sturm 2004 das Center für Cartoon Studies in der abgelegenen Kleinstadt White River Junction in Vermont gegründet hat. Wer jemals dort war, der weiß, wie engagiert dort die Kunst des Comiczeichnens vermittelt wird. Und mit Tillie Walden hat man mittlerweile auch eine hochberühmte Absolventin.

Aber Sturms Lehr- und Organisationstätigkeit schien auf Kosten seines Comiczeichnens zu gehen; jedenfalls ist „Market Day“ mittlerweile schon neun Jahre her. Umso überraschender erfolgte nun vor wenigen Wochen die Publikation eines Comics, mit dem Sturm gleich mehrfach Neuland betritt: „Off Season“ (Nebensaison), publiziert vom anspruchsvollsten nordamerikanischen Comicverlag, Drawn & Quarterly aus Kanada, erzählt keine historische und auch keine jüdische Geschichte. Anders als in den an klassischen amerikanischen comic books orientierten Vorläufern kommt hier zudem ein Querformat zum Einsatz, bei dem jede Seite zwei gleichgroße Panels bietet – denkbar strenge Formgebung also (eine kleine Leseprobe findet sich hier). Und statt Menschen treten sprechende Tiere auf, aber Sturm selbst thematisiert diese Maskenwahl mittels einer in die Handlung eingebauten Theaterszene: „as an actor it’s librating to wear the mask“, sagt einer der Akteure darin, und so soll man auch den Einsatz der Menschen aus „Off Season“ in ihren Tiergestalten verstehen. Die Darstellung als Hunde, wie es hier der Fall ist, verfremdet die Alltagsszenerie und lässt sie weniger individuell wirken.

Wobei die Geschichte von „Off Season“ zunächst einmal denkbar privat erscheint. Mark und Lisa, wohnhaft in einer ländlichen Kleinstadt der Vereinigten Staaten, haben sich nach sieben Jahren Ehe gerade getrennt, die Betreuung der beiden Kinder Suzie und Jeremy teilen sie sich. Ein Normalfall in westlichen Gesellschaften, aber für jedes betroffene Paar und allemal die Kinder doch ein Ausnahmezustand. Die übers Private hinausgehende Komponente der Geschichte ist ihr Handlungszeitraum: kurz vor bis kurz nach der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten im November 2016. Lisa und Mark unterstützten zunächst Bernie Sanders bei seiner Kandidatur als Bewerber der Demokraten; nach dessen Niederlage in den Vorwahlen gegen Hillary Clinton schwenkte Lisa jedoch ins Lager der Siegerin über, während Mark sie als Vertreterin des politischen Establishments verabscheut. Ob er dann bei der Präsidentschaftswahl Trump gewählt hat, erfahren wir nie, aber das ist nur eine der vielen von Sturm subtil offengelassenen Fragen in dieser Geschichte.

Die Panels enthalten meist einen Textkasten am oberen Rand, der Marks Sicht der Dinge mitteilt. Die muss nicht in Übereinstimmung mit der darunter gezeichneten Szene stehen, weder inhaltlich noch zeitlich. Diese Mischung aus geschriebenem inneren Monolog und gezeichneter objektiver Perspektive macht den Reiz des Bandes aus, auch sein Wagnis, denn die Gegenüberstellung lässt auch immer neue Zweifel an Marks Weltsicht zu – ein unzuverlässiger Erzähler im moralischen Verständnis. Gar nicht mal in dem Sinne, dass man seine politische Überzeugung anzweifelt, sondern im Hinblick darauf, ob seine Betrachtung und Bewältigungsversuche der familiären und beruflichen Probleme zutreffen.

Es ist herzzerreißend, wie die Spaltung der Familie sich immer weiter vertieft, und natürlich kommt man nicht umhin, diese Entwicklung als Parallele zur gesellschaftlichen Spaltung des gegenwärtigen Amerikas zu sehen. Wobei der Handlungsort eine nahezu homogene Kleinstadtbevölkerung erzwingt: Man darf in Sturms Wohnort in Vermont wohl das Vorbild für den nie dezidiert lokalisierten Schauplatz seines Comics sehen. Größere soziale Unterschiede oder gar Rassenkonflikte gibt es da gar nicht. Umso erschütternder ist der Zustand von Marks Familie und Freundeskreis.

Mit der Präzision, aber auch der Schärfe eines Skalpells präpariert Sturm die Allianzen um Mark und Lisa heraus, und so genau, wie er das Machtspiel innerhalb der Familie beobachtet – zwischen den Eltern und den Kindern –, hat man selten im Comic derartiges erzählt bekommen. Dazu kommt die lediglich grau lavierte Schwarzweiß-Stimmung und die jahreszeitlich bedingte (Herbst und Winter) Tristesse der Landschaft. Das alles macht visuell deutlich, als wie immer aussichtsloser Mark die eigene Situation erscheinen muss. Doch im letzten Kapitel – einem kompositionellen Meisterwerk, weil darin Erzähltext und dargestellte Szenen vollständig auseinanderfallen, aber sich allegorisch ergänzen – kommt eine kleine Hoffnung aus: James Sturm, der erkennbar am Zustand der Vereinigten Staaten leidet, gestattet sich keine ultimative Verzweiflung. Mir erscheint dieser versöhnende Schluss trotz anfänglichen Bedenken nach der zweiten Lektüre nunmehr als glaubhaft, weil auch er mehr Fragen offenlässt als beantwortet.

„Off Season“ ist eine intellektuelle Herausforderung: Nicht, weil dieser Comic schwer zu lesen wäre, sondern weil er als so einfach verständlich erscheint, aber die wichtigsten Themen des Lebens auf eine Weise behandelt, die nicht predigt, nicht belehrt, nicht einmal rät. Sondern einfach nur so genau hinsieht, wie man es von großer Erzählkunst erhofft. Dass man sich erst fragt, was diese hundegesichtigen Figuren eigentlich mit uns zu tun haben sollen, wenn die Rede im Comic auf die Tiermasken kommt, zeigt schon, wie souverän Sturm seine Geschichte erzählt; vorher ist ganz klar, dass sie zu uns gehören. Eigentlich hätte der Zeichner sich die metafiktionale Erörterung der Tierphysiognomien sparen können.

So war die Sondermann-Gala 2018!

Soso, das war der Sondermann 2018: In der ausverkauften Frankfurter Brotfabrik freuten sich Anna Haifisch und Otto Waalkes über Preise aus der Hand von Gabriele Roth-Pfarr, Andreas Platthaus sang eine Laudatio nach Brecht/Weill, Hans Zippert verlas Sondermeldungen, Niklas Maak hob das Bildungniveau und referierte über Brandmauern im Werk Bernd Pfarrs, eine geplatzte Gitarre konnte mit Gaffer-Tape elegant repariert werden, Bernd Eilert bereimte den Preisträger, der siegestrunkene Eintracht-Chef Fredi Bobic laudatierte im 3er-Talk, Otto sang „Gestern-Tag“ und andere Klassiker, zum Anschluß gab’s 60-Jahre-Bernd-Pfarr-Geburtstagstorte für alle, Sondermannvereinschefin Kristin Eilert schnitt sie kurz&klein, Champagnerbotschafter Boris Maskow reichte dazu alte, bräunliche Soße (Dom Perignon 1970) und Rainer Michel und die Böhmat Angels holten aus ihren Instrumenten einen groovigen mongolisch-sudanesischen Bluesharp-Surfpunk-Mix, der alle Beteligten jubeln ließ: Lange schallt’s in Hausen noch – der Sondermann, der lebe hoch!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fotos: Frank Schindelbeck (weitere Bilder hier!)

Und so sah Funk und Presse die Sondermann-Gala:

„Sondermann-Preis für Otto Waalkes…“ (RTL Hessen)

„Ein Lebenswerk voller Blödelei“ (Stuttgarter Nachrichten)

 

Hörspiel-Tipp: „The winner is … Das Sonderpreisdebakel“ (SWR2, 8.11.2018, 22.03 Uhr)

The winner is … Das Sonderpreisdebakel

Hörspiel von Oliver Maria Schmitt und Hans Zippert

Drei Tage vor Karneval geht‘s schon bei SWR2 los: Was ist da nur schiefgegangen im Stuttgarter Studio? Da streiten ein zweitklassiger Moderator und ein drittklassiger Literat um die Vergabe eines Kulturpreises.

Kaum ist der Vorhang gefallen, treffen die Kontrahenten aufeinander: der enttäuschte Bestecher und der überforderte Conferencier, der sich gerade live vor Publikum um Kopf und Kragen geredet hat. Kann man eine angesehene Auszeichnung denn einfach so kaufen?

Wer entscheidet überhaupt, ob jemand preiswürdig ist? Oder ist alles nur eine Frage der richtigen Verbindungen? Fragen, die sich nach dem Skandal um den Literaturnobelpreis immer drängender stellen.

Schmitt und Zippert wissen genau, wie die Preisvergabemaschine funktioniert. Beide haben Auszeichnungen gewonnen und Auszeichnungen vergeben. Beide sitzen in der Jury des Kulturfördervereins Sondermann e. V., beide kennen die Mechanismen des Kulturbetriebs und haben reichlich davon profitiert. In ihrem satirischen Hörspiel decken sie auf, was hinter den Kulissen tatsächlich passiert. Sie zeigen, wie man Einfluss auf eine Jury nehmen kann, welche Geldsummen fließen müssen und dass der Kulturbetrieb wohl noch viel korrupter ist, als man immer schon vermutete. Ihnen zur Seite steht Bernd Eilert, Autor für Otto Waalkes und »Titanic«-Mitbegründer, ein Mann, der mit allen Preiswassern gewaschen ist. Er berichtet, wie es ihm einmal gelang, sich als Juryberater selbst zur begehrten Auszeichnung zu verhelfen.

Ausstrahlung am Donnerstag, den 08.11.2018 um 22.03 Uhr auf SWR2

Alle Infos zur Sendung gibt es hier!

Comic-Blogger Andreas Platthaus über David B. und seine Erinnerungen an Hong Kong und Osaka

Gespenstisch gut

Der französische Traumwandler David B. setzt nach acht Jahren seine Reisetagebuch „Journal d’Italie“ fort: mit Geschichten aus China und Japan.

Wer dieses Blog schön länger liest, der könnte auf den einen oder anderen Eintrag gestoßen sein, der sich mit David B. beschäftigt. Der Franzose gehört zu den Comic-Autoren, von denen ich möglichst alles lese (auch wenn ich zugebe, dass der von ihm nur geschriebene 37. Band der berühmten Antiken-Comicserie „Alix“, der gerade in Belgien erschienen ist, mich noch nicht zum Bestellen veranlasst hat; wird aber wohl doch noch passieren). Nach längerer Pause hatte ich in diesem Jahr deshalb wieder einiges zu tun: Es erschien ein von David B. gezeichneter Band über französische Gangsterbanden in der erst kürzlich von mir hier vorgestellten Reihe „La petite Bédéthèque des Savoirs“ (den hätte Jacoby & Stuart mal übersetzen sollen, aber das Thema ist natürlich arg speziell für ein deutsches Publikum) und auf Französisch eine von ihm – wenn auch recht spärlich – illustrierte Ausgabe von Pierre Mac Orlans Antikriegsroman „Les poissons morts“. Vor allem aber kam auch ein Band heraus, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich ihn noch sehen würde: die Fortsetzung des 2010 bei Delcourt erschienenen „Journal d’Italie“, das damals als „Teil 1“ ausgewiesen war. Was mich daran über die Person des Autors hinaus begeistert hatte, war, dass mir über eine der darin erzählten Begegnungen in Venedig von der Person wiederum berichtet worden war, die David B. getroffen hatte (im damaligen Blog hier nachzulesen). Dieses Glück habe ich beim nunmehr erschienenen zweiten Teil von „Journal d’Italie“ leider nicht, aber dafür berichtet David B. diesmal von Reisen in zwei Länder, die mich besonders faszinieren: Japan und China.

Doch Moment: Wie kann das sein? Zwei asiatische Länder in einem Comic mit dem Titel „Italienisches Tagebuch“? Ja, denn David B. hat den alten Titel stehengelassen und statt der Stationen „Triest, Venedig“, die den Gegenstand des ersten Teils bildeten, diesmal „Hong Kong, Osaka“ als Untertitel daruntergesetzt. Mag sein, dass er ursprünglich eigentlich weitere Begebenheiten aus Italien hatte erzählen wollen, aber die lange Pause von acht Jahren spricht nicht dafür, dass dieser Wunsch ausgesprochen dringlich gewesen wäre. Wobei David B. sich gerne Zeit lässt. Kamen die italienischen Tagebucheinträge schon mit fünfjährigem Abstand nach den realen Begegnungen, sind es diesmal sogar dreizehn Jahre, die seit den Reisen des Zeichners nach Fernost vergangen sind. Nach Hong Kong und Osaka führte ihn sein Weg also im selben Jahr wie nach Triest und Venedig: 2005. Dieser zeitliche Zusammenhang mag ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass seine Reminiszenzen an Ostasien in dieselbe Reihe aufgenommen wurden wie die italienischen.

Also wieder Kleinformat, aber derselbe graphische Einfallsreichtum, der generell David Bs Markenzeichen ist. Die ersten vier Seiten sind als Leseprobe hier zu finden. Niemand vermag es so wie dieser Zeichner, exotisch wirkende Motive in seine höchstpersönlichen Selbsterkundungen einfließen zu lassen. Die Bildsprache verdankt ihren Formen- und Deformationsreichtum der Kenntnis von orientalischen Buchillustrationen und Ornamenten, die Erzählweise ist an „Tausendundeiner Nacht“ geschult – und das nicht nur, weil David B. bevorzugt nächtliche Geschichten erzählt: Träume, Gespräche oder Streifzüge. Auch die Kette von in sich abgeschlossenen, aber doch stets die nächste Geschichte herausfordernden Episoden ist am Vorbild von Scheherazade geschult.

So auch bei den Erinnerungen an Hong Kong und Osaka. Die chinesische Reise vom Juli 2005 steht im Zeichen von Gespenstern und Gangstern. David B. stößt auf ein verlassenes Polizeirevier, in dem es angeblich spuken soll, und schon die Doppelseite, auf der ihm das eine chinesische Gesprächspartnerin erzählt, ist ein Meisterstück: Verschattet sind die Züge der schönen jungen Dame, als sie ihn fragt, ob er sich dafür interessiere, und dann werden sie kubistisch farbig parzelliert vor Entsetzen, als er sofort zur Besichtigung aufbrechen will. Auf dem Tisch vor der Frau wird eine Szene aus David Bs Vergangenheit sichtbar: seine albtraumartige Jugend. „Kind, ich habe meinen Bruder jeden Tag dreimal sterben sehen“, steht da als Textkasten, und das rekurriert auf die Epilepsie des Bruders von David B., über die er in den neunziger Jahren sein Meisterwerk, den Comiczyklus „Die heilige Krankheit“, geschrieben hat. Was soll ihn also noch schrecken?

Das Hauptstück des chinesischen Teils von „Journal d’Italie“ ist dann die Begegnung mit einem ehemaligen Polizisten, der in dem verfluchten Revier tätig war und David B. erzählt, wie die Geister in das Gebäude eingezogen sind. Man muss es selbst lesen, denn so eine Geschichte kann nur visuell vermittelt werden; kein anderes Medium als der Comic kann hier helfen. Im Gegensatz dazu verweist der japanische Teil ganz bewusst auf Vorbilder einer anderen Erzählform: auf die Holzschnittkünstler Kuniyoshi, Yoshitoshi, Hokusai und Kunisada als Großmeister des japanischen Gespensterbilds. Gerade aus den Einzelblättern und Triptychen der ersten beiden entnimmt David B. viele Figuren und teilweise ganze Seitenkompositionen. Ein Heidenspaß für Liebhaber.

Auch hier geht es also um Gespenster, aber anders als in China wird in Japan deren Existenz für ganz normal und nicht bedrohlich gehalten. Stattdessen aber ist David B. für seine japanischen Gesprächspartner befremdlich und auch für den französischen Kollegen Frédéric Boilet, der ihn im Oktober 2005 nach Osaka eingeladen hat. Erstere sehen in dem langen Westler eine gespenstische Erscheinung, bisweilen auch einen Eindringling in ihre Kultur, und David B. zeichnet sich denn auch selbst wie einen Geist. Boilet dagegen kann die Faszination seines Gastes für Geisterwesen nicht verstehen und fordert ihn ständig auf, doch lieber Comics über Frauen zu zeichnen (wer jemals Geschichten von Frédéric Boilet gelesen hat, weiß, wie treffend dieses Porträt geraten ist).

Doch das Bemerkenswerteste am zweiten Teil des „Journal d’Italie“ ist David Bs zeichnerische Entwicklung. Nicht, dass sein Stil nicht immer noch unverkennbar wäre, aber die Anpassung seiner Figuren an die chinesische und japanische Ästhetik ist grandios, und er verwendet nunmehr blassere Farben, die den traumartigen Stimmungen seiner Notate noch gerechter werden als die früheren Dunkeltöne. Was für ein Glück, dass dieser Zeichner offenbar ein unerschöpfliches Reservoir an Aufzeichnungen über seine Erlebnisse und Träume besitzt, aus dem er immer wieder neu für Geschichten schöpfen kann, die ihresgleichen nicht haben. Traumdeutung ist das übrigens nie. Traumhaft immer.

„Bernd Pfarr und die Literatur“ am 5.11.2018 im Literaturhaus Frankfurt

Heissa!! Und jetzt geht’s in’s Marienwäldchen!

Bernd Pfarr (1958–2004) gehört zu den bedeutendsten Bild-Erzählern, die Deutschland je hervorgebracht hat: unverwechselbar als Zeichner, virtuos als Maler, brillant als Autor, insbesondere durch seine Figur Sondermann. In seinem Werk ist die Literatur allgegenwärtig, ob er Gogol, Melville oder Strindberg in vier Bildern nacherzählt, ob Sondermann Gedichte im „Verein der Freunde der Würzmittel“ rezitiert oder die Automechaniker Dulle und Kapuste „Das Schloss“ diskutieren. Bernd Pfarrs Wegbegleiter, F.A.Z.-Redakteur Andreas Platthaus und Autor Bernd Eilert sowie der Schriftsteller Martin Mosebach und Cartoonist Leo Riegel, betrachten und erörtern Bernd Pfarrs Bezug zur Literatur, seine Vorlieben und Referenzen. Gezeigt werden eine Präsentation mit einer Auswahl seiner Arbeiten sowie Fernsehbeiträge, die den Künstler, der in diesem Jahr 60 Jahre alt geworden wäre, selbst zu Wort kommen lassen.

Die Veranstaltung findet in Kooperation mit dem Carlsen Verlag statt.

Montag, 5. November 2018 um 19.30 Uhr im Literaturhaus Frankfurt, Schöne Aussicht 2, 60311 Frankfurt am Main

VVK-Tickets sind hier erhältlich.

Nicht vergessen: SONDERMANN-Gala 2018 am 11. November – es sind noch Tickets da!

Mittlerweile hat sich auch in der Presse herumgesprochen, wer der diesjährige Sondermann-Preisträger ist, wer den Förderpreis einsacken wird, wer als Laudator die Bühne betritt und wer wieder nur am Büffet herumstehen wird.

Wer sich dieses kulturhistorische Ereignis nicht entgehen lassen will, kommt am 11.11.2018 um 20.00 Uhr in die Brotfabrik Frankfurt (Bachmannstraße 2-4, 60488 Frankfurt am Main), ordert vorher aber hier noch eine Eintrittskarte.

Der Sondermann e.V. freut sich auf Sie, Sie, Sie und ganz besonders Sie!

Andreas Platthaus rezensiert den Sachcomic „Israel und Palästina“

Dieser Konflikt ist offenbar reine Männersache

Was können Sachcomics leisten? Mehr, als Vladimir Grigorieff und Abdel de Bruxelles in ihrem Buch über den israelisch-palästinensischen Konflikt vorführen.

©Jacoby & Stuart

In Frankreich – wo sonst? – erscheint seit einigen Jahren im Comicverlag Lombard eine Reihe kleinformatiger Bücher unter dem Titel „La petite Bédéthèque des Savoirs“, übersetzt etwa „Die kleine Comicothek der Kenntnisse“. Auf bis zu hundert Seiten wird Wissen in Comicform vermittelt, ausgerichtet auf halbwüchsige Leser oder junge Erwachsene. In Deutschland – wo sonst? – hat man dieses Konzept rasch in Lizenz übernommen, allerdings mit weniger Ehrgeiz (in Frankreich sind bisher schon 26 Titel erschienen, hierzulande erst fünf) und mit einem etwas großspurigeren Namen: „Die Comic-Bibliothek des Wissens“. Ansonsten macht das seit langem auf dem Comicmarkt aktive Verlagshaus Jacoby & Stuart genau das, was Lombard ihnen vorgibt, und die Übersetzung besorgt der Verlagschef Edmund Jacoby höchstselbst.

Nun ist es mit Comicübersetzen so eine Sache, und bei Sachcomics kommt noch ein Problem dazu: Der durch die Sprechblasen und Textkästen vorgegebene Platz reicht oft für deutsche Texte nicht aus, und die Fachtermini zu bestimmten Bereichen sind von Sprache zu Sprache nicht so einfach zu übertragen. Zumal auch Diskurse ganz anders laufen können. Das kann man am jüngst erschienenen fünften deutschen Band der „Comic-Bibliothek des Wissens“ gut sehen: Es geht um „Israel und Palästina“ (im Original deutlich präziser „Le Conflit Israélo-Palestinien“, also um die Menschen, nicht ums Territorium), und darin wird größten Wert auf die Unterscheidung von Neozionismus und Postzionismus gelegt. Nun sind das keine in Deutschland eingeführten Begriffe, sie faszinieren vielmehr den Szenaristen des Comics, den belgischen Kulturhistoriker Vladimir Grigorieff. „Le Conflit Israélo-Palestinien“ war sein letztes Buch; er starb 2017, wenige Wochen nach dem Erscheinen des Comics in Frankreich.

Grigorieff war jüdischer Abstammung, aber weit davon entfernt, die Sache der Israelis zu vertreten. In einem Prolog von zwei Seiten ist dargestellt wie der Herausgeber der Serie, David Vandermeulen, und die Lektorin Nathalie Van Campenhoudt ihn als Autor für das Buch gewonnen haben: mit der Erwartung, Grigorieff werde „eine Einladung zum Selbstdenken“ bieten. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein, und irgendwann ist Abdel de Bruxelles als Zeichner dazugestoßen, seinerseits muslimischer Abkunft, aber wie und warum, darüber erfährt man nichts. Dieses Ungleichgewicht ist seltsam.

Ansonsten bemüht sich der Sachcomic angesichts des denkbar heiklen Themas um Balance. In den Rahmenerzählungen der einzelnen Kapitel sind immer wieder Stellvertreter der beiden konkurrierenden Gemeinschaften im Gespräch zu sehen: jeweils unterschiedlichen Alters, aber ähnlichen Bildungshintergrunds, allerdings ausschließlich Männer. Frauen sind als Mitdiskutierende offenbar untauglich, und außer Golda Meir kommt auch keine historische Akteurin vor (und auch diese nur im Zusammenhang ihres Rücktritts nach dem Jom-Kippur-Krieg); dass Nathalie Van Campenhoudt am Schluss auch noch einmal in die Handlung eingreifen darf, ist deshalb erstaunlich. Da sie dann in denkbar ungelenker Sprache behauptet: „Der Terrorismus ist in der Tat nicht zu rechtfertigen. Aber die israelischen Repressalien sind es mindestens genauso wenig“, wäre sie besser ganz weggeblieben. Überhaupt erscheinen sie und Vandermeulen nicht so objektiv, wie sie ihre Aufgabe wohl selbst verstanden sehen wollen.

Mag sein, dass Israel als mächtigerer Faktor im Konflikt schneller in den Verdacht unfairer Handlungen gerät – die Sympathien eines neutralen Publikums liegen ja meist bei den von ihm als schwächer Eingeschätzten. Aber diese Sympathie genießen die ersten Zionisten, die im frühen zwanzigsten Jahrhundert Palästina erreichen, in dem Comic nicht, vom ersten Krieg zwischen Israelis und Arabern im Jahr 1948 ganz zu schweigen, als der junge jüdische Staat dem Untergang geweiht schien. Das liegt natürlich daran, dass er diesem Schicksal damals entging. Ephraim Kishon hat einem seiner Bücher den schönen Titel „Pardon, wir haben gewonnen“ gegeben. Das trifft die Sache genau.

Aber weg vom Inhalt, hin zur Form. Abdel de Bruxelles verfügt über ein breites Stilrepertoire (Leseprobe), das er in dem Comic geschickt einsetzt. Die erklärenden Rahmenhandlungen, überwiegend in Form von idealtypischen Gesprächen gehalten, sind in cartoonesk schlichtem Strich gehalten, die historischen Szenen in realistischer Graphik, die über ihre Sepiafärbung Vergangenheit signalisiert. Leider wird nicht streng chronologisch erzählt, sondern themenbezogen. Dadurch werden etliche Zusammenhänge unklar, etwa die von Israel empfundene Bedrohung durch den Panarabismus, die das Land mit dem Angriff beantwortete, der dann zum Sechstagekrieg wurde. Da der Panarabismus als Phänomen erst viel später im Comic behandelt wird als der Krieg, bleibt die Motivation der Israelis zum Präventivschlag im Vagen. Und das ist erstaunlich oft der Fall, wenn es um israelisches Handeln geht.

Hundert Seiten sind nicht viel für einen der größten Konflikte der letzten siebzig Jahre. Aber dass Iran nicht ein einziges Mal erwähnt wird, der Libanon nur eine Nebenrolle spielt und Syrien eigentlich nur im Zusammenhang der Golanhöhen und des politischen Zusammengehens mit Ägypten genannt wird, trägt nicht zur Klarheit der Darstellung bei. Die Begründung für diese Zurückhaltung ist klar: Es geht ja um Israelis und Palästinenser, nicht um Syrer, Libanesen, Iraner. Aber ägyptische Angelegenheiten kommen auch breit vor, von amerikanischen ganz zu schweigen. Wie sollte das auch anders sein bei einer Schilderung dieses Konflikts? Aber wie kann man ihn weitgehend ohne Iran, Libanon und Syrien erzählen?

Auch die Jerusalemfrage wird nebenbei behandelt, und so aktuell, dass die angekündigte Verlegung der amerikanische Botschaft dorthin behandelt würde, ist der Band leider nicht. Wozu aber gibt es dann ein Vorwort aus der Feder Vandermeulens, wenn darin nicht der neueste Stand der Dinge dokumentiert wird? Den man zudem in der deutschen Fassung noch hätte aktualisieren können. Vertane Chance für den Comic. Einem normalen Sachbuch wäre das kaum unterlaufen.

Nein, „Israel und Palästina“ ist kein Meisterstück der Geschichtsschreibung oder gar der Comicgeschichte, und die in diesem Format nur schwer lesbare Typographie der deutschen Ausgabe tut samt den überflüssig vielen Sternchen und Anführungszeichen, mit denen man eine eigene sprachliche Positionierung vermieden will, das Ihre dazu, die Lektüre nicht leicht zu machen. Der Gedanke, jungen Menschen die Gegenwart über Comics nahezubringen, ist sehr gut. Aber die Comics selbst müssen es dann auch sein. Daran müsste diese Reihe noch arbeiten.

Der Sondermann e.V. berichtet, lädt ein und weist hin

»Sondermann war so unwahrscheinlich geizig, daß er selbst schon lachen mußte.«Werte Freunde, Förderer, Wohltäter und Gönner, liebe Sonderfrauen und -manner,

o je, das Geld ist knapp! Erinnern Sie sich an das Jahr 2017? Champagner floß bei der Sondermanngala in und aus den Mündern der Förderpreisträgerin Kathrin »Coldmirror« Fricke und des Hauptpreisgewinners Hans Traxler. Am späteren Abend wühlte sich der gesamte Vorstand durch Häppchen, Kaviar und Avocadoschiffchen. Und danach kam erst der Hauptgang

2018 ist alles anders. Die Kassen des Sondermann e.V. sind nicht nur leer, sondern überhaupt nicht mehr auffindbar. Keine Angst: Ihre Mitgliedsbeiträge, liebe Freundinnen und Freunde, können trotzdem verbucht werden. Zögern Sie nicht! Und zögern Sie bitte gleich doppelt nicht, denn wir laden Sie hiermit herzlich und wieder einmal zur großen Sondermann-Spendengala in die Brotfabrik. Erscheinen Sie am 11.11.2018 nach Sonnenuntergang in feinstem Zwirn und mit den dicksten Klunkern um den Hals, damit der Schein, bzw. der Geldschein gewahrt wird. Die Preisträger dieses Jahres sind nämlich hochkarätige, und ahnen nicht, dass ihre Fördermittel im Moment noch zusammengekratzt werden müssen. Teils mit fragwürdigen Methoden. Fragen Sie jedoch bitte nicht! Prämiert werden jedenfalls die Leipzigerin Anna Haifisch und der Emdener Otto Waalkes – ja: Hai und Waal; nein: kein Scherz.

Während die Illustratorin Anna Haifisch Kennerinnen und Kennern bereits ein Begriff sein dürfte, wird der Name Otto Waalkes bei vielen von Ihnen ein Fragezeichen über dem Kopf aufploppen lassen. Für Aufklärung sorgen wird am 11.11. deshalb kein geringerer als der Laudator Fredi Bobic, ehem. ein Eckpunkt des magischen Dreiecks beim VfB Stuttgart.

Kommen Sie also zahlreich und füllen Sie die Ränge!

Aus Kostengründen liegt diesem Schreiben keine goldene Eintrittskarte bei, sondern Sie müssen diese im Internet bestellen. Gerne unter: www.brotfabrikfrankfurtticketshop.reservix.de/ (Mitglieder des Sondermann e.V. haben selbstverständlich freien Eintritt! Bitte unbedingt Karte bis zum 07.11. schriftlich reservieren lassen unter info@sondermannverein.org).

Für ein paar wenige Zeilen über das Vereinsleben reicht die teure Druckertinte noch. Denn auch sonst stand das vergangene Jahr ganz im Zeichen knapper Kassen. Fand man zum Sondermannstammtisch zusammen, trank der Vorstand bis in die frühen Morgenstunden – auf daß es sich eben auch richtig lohne. Unsere Vereinswebsite wurde von Stipendiat Daniel Sibbe sparsam, aber mit viel Liebe betreut. Eine schöne Leistung, an die ab November unsere neue Stipendiatin Paula Irmschler anknüpfen wird.

Alle sonstigen Projekte und Vorhaben mussten aus Geldnot gestrichen … – Unsinn, nun ist es genug mit Sparwitzen! Dem Verein geht es gut und das verdankt er in erster Linie Ihnen, den Mitgliedern und Gönnerinnen, den Freundinnen und Freunden. Merken Sie sich am Ende bitte nur die folgenden, herzlichen Grüße:

Herzliche Grüße! Wir freuen uns mit Ihnen auf die Sondermanngala und zitieren zum Abschied das Motto des Sondermann e.V.:

»Weiche von mir, schwuler Fußball!« (Fredi Bobic)

Der Vorstand:

Bernd Eilert, Kristin Eilert, Christoph Hofmann, Gabriele Roth-Pfarr & Oliver Maria Schmitt

Sondermann e.V.

eingetragener Verein zur Förderung, Erforschung und Verbreitung der Komischen Kunst und Literatur

Veranstaltungshinweise

Montag, 5. November 2018, 19:30 Uhr

Heissa!! Und jetzt geht es in’s Marienwäldchen! Ein Abend zu Ehren Bernd Pfarrs im Literaturhaus Frankfurt, Schöne Aussicht 2, 60311 Frankfurt a. M.


24.11.2018 bis 17.02.2019

Ausstellung: Bernd Pfarr „Die wilde Schönheit der Auslegeware“ im Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst, Georgengarten 1, 30167 Hannover

Andreas Platthaus: Vom Umfallen und einem blauen Pulli mit Falafelfladenbrot

Geniestreich durch Geniestrich

Mikael Ross ist mit „Der Umfall“ eine großartige Erzählung über ein höchst heikles Thema gelungen: das Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Menschen. Mit dieser Geschichte, die das erste Berliner Comic-Stipendium gewann, hat er nicht nur seine Auftraggeber, die Evangelische Stiftung Neuerkerode, beglückt, sondern jeden Comicleser.

Warum soll man sich nicht einen Comic zum Geburtstag schenken? Die Frage mag paradox klingen, aber genau das hat die Evangelische Stiftung Neuerkerode getan. Zu ihrem hundertfünfzigsten Geburtstag, den sie vor knapp vier Wochen feiern konnte, beauftragte sie den Berliner Zeichner Mikael Ross mit einem Comic über das Leben in dieser Einrichtung, die in einem dörflichen Kontext das Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Menschen ermöglicht. Und damit hat die Stiftung nicht nur sich ein wunderschönes Geschenk gemacht, sondern auch uns – und zwar gerade, wenn wir zuvor noch nie etwas über Neuerkerode gehört haben sollten. Denn es handelt sich um einen der bemerkenswertesten deutschen Comics.

Das hat auch die Kulturverwaltung des Berliner Senats so gesehen, als sie ihr erstes Comic-Stipendium an Mikael Ross für seine Arbeit an „Der Umfall“ zusprach. Es handelt sich bei dem Preis in Höhe von immerhin 16.000 Euro um das erste öffentliche Comic-Stipendium in Deutschland (während etwa die Schweiz so etwas schon seit Jahren bietet) und zugleich um eine der höchstdotierten Auszeichnungen dieser Art. Bewerbungsberechtigt sind nur Berliner Autoren, aber davon gibt es ja genug. Auch Ross stammt ursprünglich aus München und hat bei einem Auslandsstudienaufenthalt in Brüssel die Entscheidung getroffen, sich ganz aufs Comiczeichnen zu verlegen. Wieder einmal verdankt der europäische Comic also Belgien einen großen Künstler.

In Brüssel tat sich Ross mit Nicolas Wouters zusammen, der ihm die Szenarios von gleich zwei Alben schrieb, die in Frankreich bei Sarbacane erschienen sind und jeweils für den Avant-Verlag ins Deutsche übersetzt wurden: „Lauter leben!“ (2014) und „Totem“ (2016), beides Geschichten, die Furore machten. Womit sich wieder einmal die Frage stellte, warum deutsche Comicbegabungen bisweilen oft erst den Umweg übers Ausland machen müssen (man denke etwa auch an Barbara Yelin). „Der Umfall“, wieder bei Avant erschienen, ist nun die erste für den deutschen Markt gezeichnete Geschichte von Mikael Ross, aber wer weiß, ob es ohne das Engagement der Stiftung Neuerkerode und von dessen comicbegeistertem Direktor Rüdiger Becker überhaupt dazu gekommen wäre.

Was mag sich Becker versprochen haben, als er Ross engagierte? Eine Reportage, eine Geschichte der Institution oder das, was es jetzt geworden ist: eine fiktive Erzählung vor dem höchst realen Hintergrund von Neuerkerode? Diese Entscheidung war nicht naheliegend, aber in Anbetracht des Resultats ist sie ein Glück. Denn so interessant ein sachlicher Blick auf die Arbeit der im Kreis Braunschweig angesiedelten Einrichtung auch wäre, erst die Freiheit, mit der Ross die Ergebnisse seiner zweijährigen Recherchen in Neuerkerode (die zu großen Teilen in Gesprächen mit den dort lebenden Menschen bestand) zu einer stringenten Erzählung umformte, macht die Qualität von „Der Umfall“ aus. Und wird dem gerecht, was Ross in Neuerkerode beobachtet und besprochen hat.

Gezeichnet ist das in einem für Deutschland ganz seltenen Stil, der die Begeisterung von Ross für französische Vorbilder erkennen lässt, vor allem für Nicolas de Crécy und Christophe Blain. Deren Meisterschaft für karikatureske Elemente in geradezu malerisch angelegten Dekors (Leseprobe) hat Ross nachgeeifert, und es ist ihm gelungen, diese bisweilen märchenhafte Stimmung auch in seiner Geschichte zu erschaffen – ein Kunststück und zugleich erzählerische Notwendigkeit.

Hauptfigur ist Noel Stock, ein junger Mann unbestimmten Alters und unbekannter Behinderung. Unbestimmt und unbekannt jeweils deshalb, weil „Der Umfall“ aus seiner Sicht erzählt ist, und die hält naturgemäß das für normal, was er ist und empfindet. Schon diese Perspektive wird dem Neuerkeroder Konzept, jeden Menschen als das zu akzeptieren, was er sein möchte, gerecht. Zudem vermittelt der Comic dadurch ein schwebendes Gefühl: zwischen Wirklichkeit und Phantasie. Die Träume von Noel, einem tatsächlichen Weihnachtskind, wie sein Name es sagt, sind elementarer Bestandteil der Handlung.

Es gibt kein Eins-zu-eins-Vorbild, das Ross dabei als Modell gedient hätte; Noel als Figur ist die Kombination mehrerer Bewohner von und Geschichten aus Neuerkerode. Im Comic aber ist er – wie alle Figuren – ein Individualist reinsten Wassers: Nach einem Schlaganfall der Mutter (dem titelgebenden „Umfall“), bei der er in Berlin lebt, kommt Noel zur Betreuung in die Evangelische Stiftung. Der Comic begleitet seine Eingewöhnungsphase: ein erstes Jahr voller Unsicherheiten und Entdeckungen, neuen Bekannt-, vielen Freund- und auch ein paar Feindschaften. Wir lernen den Alltag in dem Dorf Neuerkerode kennen, Betreute und Betreuer, verlieben uns mit Noel und werden mit ihm enttäuscht, und ganz nebenbei werden die Wege gezeigt, auf denen man in der Stiftung zum Ziel eines inklusiven Lebens von Behinderten und Nichtbehinderten kommen will. Dass es hier in einer geradezu idealen Umgebung versucht wird, sagt nichts darüber aus, ob es nicht auch anderswo zumindest viel besser ginge als bislang üblich. Wobei auch gesagt sein muss. Dass in der Stiftung das Verhältnis von Betreuten zu Betreuern zahlenmäßig etwa ausgeglichen ist. Wo gibt es das sonst?

Aber auch in Neuerkerode ist nicht alles ideal, auch daran lässt Ross‘ Comic keinen Zweifel. Ein Kapitel, erzählerisch grandios vorbereitet und dann eingepasst in die übrige Handlung, beschäftigt sich mit der Vergangenheit der Einrichtung in der NS-Zeit, als auch hier Patienten im Rahmen der Euthanasie-Verbrechen ermordet wurden. Man spürt der Passage das besondere Interesse von Ross an.

Wie man ihm den Spaß anmerkt, die Wahrnehmung von Noel in Bilder zu übertragen. Da werden Ärzte mal eben zu einer Schar quakender Enten, und die Physiognomien von Menschen erscheinen extremer, als man es sich vorstellen kann. Dafür ist der Comic das richtige Medium: Gezeichnet werden kann alles, und Glaubwürdigkeit ist eine Sache der der konsequenten Präsentation, nicht eines Realismus konventioneller Ausprägung. Dass Ross auf diese Weise  glaubwürdig zu zeichnen versteht, hatten schon „Lauter leben!“ und „Totem“ beweisen, auch das Geschichten übers Erwachsenwerden unter schwierigen Bedingungen. So gesehen setzt „Der Umfall“ eine Zeichnerkarriere schlüssig fort. Doch wie Ross nun selbst als Erzähler auftritt, wie er seine Buntstiftzeichnungen perfektioniert hat, wie er sehr selten einzelne Splash Pages als Stimmungsverstärker einsetzt, Geniestreich durch Geniestrich – all das zeigt, dass hier ein ganz Großer auf dem Weg ist. „Der Umfall“ ist zweifellos ein Höhepunkt, aber sicher auch noch nicht der Gipfel dessen, was Mikael Ross erreichen kann.


Dönerdeutschschweizerisch

Selina Ursprung hat zwei Dutzend türkische Imbissbuden in der Schweiz und Deutschland aufgesucht und ihre Beobachtungen zu einer gezeichneten Impression arrangiert. Aber ist das Comic? Oder Journalismus? Oder aber was?

Seit Jahrzehnten stand die Edition Moderne unter der Ägide ihres Verlegers David Basler für die erzählerische Comicavantgarde. Nun steht ein Stabwechsel im Haus bevor, doch Basler selbst hat in jüngster Zeit noch einige Neuerungen angestoßen, darunter auch intensivere Kontakte zu den Hochschulen, aus denen immer mehr Comictalente kommen. Und eine Neugier des Verlags für Projekte, die nicht im klassischen Sinne Comics sind. Das jüngste Produkt des Zürcher Hauses ist ein Band, der diese beiden Öffnungen kombiniert: Selina Ursprungs „Mit blauem Pulli und Falafelfladenbrot“.

Ursprung, 1993 geboren, hat in Bern Visuelle Kommunikation studiert, und ein Resultat ihrer Negier auf graphische Erzählformen ist diese Comicreportage. Oder nennen wir sie lieber mit Joa Sacco „graphic journalism“, denn als Comic kann man den Band nur unter extremer Ausweitung der Kriterien bezeichnen. Ursprung wandelt auf den Spuren von Sebastian Lörscher oder Olivier Kugler, die auch auf Spezifika wie Sprechblasen oder Sequenzen verzichten und eher Skizzenbuchästhetik anstrebt. So ist es auch in diesem Band der jungen Schweizerin, der sich dem Thema türkischer Imbissbuden widmet.

In drei Städten hat Selina Ursprung entsprechende Etablissements besucht, alle drei beginnen mit dem Buchstaben B: Biel, Bern und Berlin. Wäre nicht eine der von ihr aufgesuchten Berliner Imbissadressen weltberühmt („Mustafa’s Gemüse Kebab“ in Kreuzberg), würde man kaum Unterschiede erkennen zwischen den schweizerischen und deutschen Beispielen. Das ist denn auch die Stärke dieser gezeichneten Reportage: Im Blick auf Details der Ladeneinrichtungen oder im Notat von Kundengesprächen wird vom lokalen Kontext abstrahiert, und dadurch kommt eine Typisierung zustande, die unabhängig vom Ort der jeweiligen Imbissbude ist.

Soweit das Interessante an dem Band mit dem umständlichen Titel. Wunderbar, wie Ursprung Mülleimer skizziert oder die Hände des Verkaufspersonal beim Zubereiten von Döner. Bedauerlich ist dagegen die durch die Entindividualisierung des konkreten Gegenstands erzwungene Allgemeingültigkeit. Sie könnte Erkenntniskraft besitzen, doch nirgendwo im Buch wird diese Frage thematisiert. Selbst das Nachwort der deutschen Kulturwissenschaftlerin Miriam Stock  gefällt sich eher im discours de la méthode, denn in einer Interpretation dessen, was Usprung tut.

Sie kombiniert jeweils auf einer Doppelseite mehrere skizzierte Eindrücke aus den aufgesuchten Imbissbuden und leitet sie meist durch notierte Gesprächsfetzen oder Inhalte von Beschilderungen ein. Ein unmittelbarer Bezug zwischen Wort und Bild besteht selten, beide Elemente ergänzen sich zum Eindruck der Reporterin, befruchten sich jedoch nicht gegenseitig. Zudem werden einzelne Lokalitäten mehrfach aufgesucht (die Uhrzeit des Besuchs ist ebenso wie der Name der Imbissbude stets vermerkt), doch die Impressionen werden nicht gebündelt. Auch das trägt zum abstrakten Gesamteindruck bei.

Zeichnen kann Selina Ursprung (eine Leseprobe ist hier zu finden), erzählen kann sie (noch) nicht. Das impressionistische Model ihrer Reportage ist der Kunst verpflichtet, nicht dem Journalismus oder dem Comic. Es ist zwar eine Dokumentation, doch die soll assoziativ wirken. Schön sind dabei die Stilwechsel: mal Bleistiftlinien, mal Tuschezeichnungen, oft schwarzweiß, aber auch bisweilen farbig, du gerade, weil sie eher rar sind, kommen die authentischen Farbakzente besonders stark zur Geltung. Selina Ursprung ist zweifellos ein graphisches Talent und eine sehr gute Beobachterin, aber ob sie daraus Geschichten generieren können wird, das bleibt noch abzuwarten. Da die Edition Moderne das ihren Autoren treu zu bleiben pflegt, werden wir die Probe darauf wohl machen können.