Comic-Blog

Ich bin doch keine Kinderzeichnerin!
von Andreas Platthaus

Der dritte Tag von Angoulême: Die Sicherheitskontrollen beim Comicfestival führen zu grotesken Situationen. D0ch manchmal ist das falsche Publikum genau das richtige.

Das musste ja so kommen. Am Samstag sorgten die nach dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ anberaumten Sicherheitskontrollen auf dem Comicfestival von Angoulême für endlose Schlangen vor den Verlagszelten und Ausstellungsorten. Zumal die Öffnungszeiten von jeweils zehn Uhr morgens sklavisch eingehalten wurden, genauso wie die Anfangszeiten der Diskussions- und Vortragsveranstaltungen, von denen einige gleichfalls um zehn Uhr morgens angesetzt waren. Der Zeitplan stammte noch aus den Tagen vor dem 7. Januar, aber warum sie denn den geänderten Bedingungen anpassen? Und so kam es, daß sich zu einer dieser vormittäglichen Veranstaltungen nur zwei einsame deutsche Gäste einigermaßen pünktlich einfanden (die allerdings auch durch ihre Presseausweise profitiert hatten, weil sie sich nicht in die hundert Meter lange Schlange mit normalen Besuchern vor den Kontrollposten einreihen mußten).

Also begegneten sich im Konferenzsaal der Musée de la Bande dessinée um 10.05 Uhr vier Menschen: die beiden deutschen Gäste, eine betretene Organisatorin und die Referentin, die fünfunddreißigjährige französische Comiczeichnerin Nancy Pena (von der unbegreiflicherweise noch kein einziges Buch auf Deutsch erschienen ist). Letztere zeigte sich erfreut über diese ersten Besucher, einmal, weil überhaupt jemand kam, und dann, weil es sich dabei um Erwachsene handelte. Die Veranstaltungsreihe, in der Frau Pena auftrat, lief nämlich unter dem Titel „Rencontres jeunesse“, also Begegnungen für die Jugend, aber Nancy Pena versteht sich gar nicht als Zeichnerin für Kinder oder Jugendliche. Wie sie in diese Schiene geraten sei, wisse sie nicht, aber sie habe anfangs auch mal Illustrationen für Jugendbücher gemacht, also werde das schon irgendwie angehen.

Wann aber sollte es irgendwie losgehen? Die Organisatorin eilte ins Foyer, um die ersten durch die Sicherheitsschleusen gelangten Besucher zum Vortragsraum zu lotsen. Eine Frau mit zwei Kindern trifft ein. Der Junge fragt: „Worum geht es in Ihren Comics?“ Nancy Pena antwortet: Im neuesten Band um Medea, eine Zauberin aus dem antiken Griechenland.“ „War sie böse?“ „Das ist nicht so eindeutig zu sagen.“ Ehrlichkeit zahlt sich aus, die dreiköpfige Familie bleibt.

Um 10.20 Uhr kommt die Organisatorin aus dem Foyer zurück und verkündet einen ersten Anwerbeerfolg: Eine Gruppe von rund vierzig Kinder werde gleich eintreffen, eine Betreuerin ist schon mitgekommen. „Aber ich mache keine Kindercomics“ – die Beteuerung der Zeichnerin schreckt erfreulicherweise nicht ab, im Nu ist der Saal voll, in der ersten Reihe nehmen mit Gabriel und Etienne zwei hyperaktive Knaben Platz, deren Namen dank der Ermahnungen der Aufsichtsperson im Publikum bald besser bekannt sind als der der Künstlerin.

Nancy Pena hat wunderbare Comics gezeichnet: „La Gilde de la mer“ etwa, der aber nach zwei Bänden nicht mehr fortgesetzt wurde, weil sich der mutige Kleinverlag den finanziellen Aufwand dafür nicht mehr leisten konnte. Oder „Tea Party“, eine Geschichte aus dem England des neunzehnten Jahrhunderts, wo Penas literarische Vorbilder zu suchen sind. Und eben „Medée“, dessen zweiter Teil gerade zum Comicfestival erschienen ist. Um den soll es in der Präsentation gehen, aber die Geschichte von Medea ist eben kein Schlummerlied. Das jedoch hat die Programmplaner nicht gestört, also wurde Nancy Pena ins Kinderprogramm geschoben, wo noch Platz war. Aus Rücksicht aufs junge Publikum wird sie kein einziges Bild aus „Medée“ zeigen. Aber der Vormittag wird dennoch grandios.

Denn die Kinder stellen großartige Fragen: „Was ist deine Lieblingsgeschichte?“ „Der gestiefelte Kater. Kennt ihr den?“ Betretenes Schweigen auf beiden Seiten: Die Kinder kennen das Märchen nicht, Nancy Pena versteht die Welt nicht mehr. „Was machen Sie, wenn Sie mal keine Comics mehr zeichnen werden?“ „Vielleicht Schafe hüten.“ „Und was wollten Sie vorher werden?“ „Schatzsucherin oder Entdeckerin.“ Wann wird man als Comiczeichnerin schon mal nach so etwas gefragt?

Man merkt Nancy Pena an, daß sie ausgebildete Lehrerin ist, die ihren Beruf aber mit 25 Jahren an den Nagel hängte, als sie ihren ersten Comic veröffentlichen konnte. Zehn Alben hat sie seitdem fertiggestellt und etliche Bücher illustriert, doch besonderes Vergnügen bereiten ihr Zeichnungen für T-Shirts oder Teedosen, „denn da muss ich als Illustratorin dreidimensional denken“. Am Schluss gehen Publikum und Zeichnerin zufrieden auseinander, auch wenn von der angekündigten Stunde Vortragszeit durch die einlaßkontrollenbedingte Verspätung nur die Hälfte geblieben ist. Bei den Kindern war Nancy Pena genau richtig.

Solche Zuhörer hätte man auch Riad Sattouf gewünscht, dem Verfasser des erfolgreichsten französischen Comics im vergangenen Jahr, „L’Arabe du futur“. Durch einen Zufall kam mir die Aufgabe zu, ihn ins Deutsche zu übersetzen (er erscheint in zwei Wochen), aber das mußte sehr schnell passieren, und ich hatte Sattouf bisher noch nie getroffen, also wollte ich ihn nun zumindest einmal hören. Da sein Buch für den Hauptpreis des Festivals nominiert ist, wollten ihn aber auch Hunderte anderer Leute hören, und sie hatten dieselben Probleme, in die Salle Bunuel im Espace Franquin zu kommen, wie morgens etwaige Interessenten von Nancy Pena.

So herrschte noch weit nach Beginn des Gesprächs ein eifriges Kommen im Saal, und diese erwachsene Unruhe hätte man gern gegen die hyperaktiven Gabriel und Etienne vom Vormittag eingetauscht. Zumal der Moderator sich in ironischen Mätzchen gefiel, die dem Gespräch nicht zuträglich waren, wenn Sattouf sie auch souverän konterte. Keine Rede kam übrigens darauf, daß er zehn Jahre lang für „Charlie Hebdo“ gezeichnet hat. Erstaunlich, daß das größte Thema des Festivals dort keine Rolle spielte, wo man wirklich einen kenntnisreichen Gesprächspartner gehabt hätte.

Mittlerweile sind übrigens die anfangs schier unendlich scheinenden Bestände an der nach dem Attentat erschienenen Nummer von „Charlie Hebdo“ auch in Angoulême ausverkauft. Nur an den beiden Ständen des Satiremagazins selbst gibt es noch Reste, aber die werden nur an Interessenten abgegeben, die ein Abonnement abschließen. An einem der Stände beschied man einen deutschen Festivalgast, er möge doch zum anderen gehen; dort sagte man ihm dann, er möge die Ausgabe in Deutschland kaufen. Selten so gelacht! Aber dann bekam er doch noch zwei Exemplare. Gut, daß ich meines schon am Donnerstag erworben hatte.