Comic-Blog

townboyMalaysia bitte für die ganze Welt!
von Andreas Platthaus

Wie blind kann man sein für Meisterleistungen? Durch Zufall habe ich neun Jahre nach dessen Erscheinen einen der Comics meines Lebens entdeckt.

Vor ein paar Wochen habe ich an dieser Stelle Sean Chuangs autobiographischen Comic über seine Jugend in den achtziger Jahren in Taiwan vorgestellt. Dann fuhr ich in Urlaub nach Frankreich und fand dort in einem Comicladen in Dijon einen Band, der bereits vor neun Jahren erschienen ist und ein verwandtes Thema hat: wieder eine asiatische Jugend in schwarzweißen Zeichnungen, allerdings diesmal in Malaysia und in den sechziger Jahren – und vor allem noch besser. Es ist mir unbegreiflich, wie ich dieses Buch neun Jahre lang habe übersehen können.

Denn erst einmal ist es groß: ein prachtvolles broschiertes Querformat, das aus den meisten Bücherreihen herausragt. Es erinnert mich an Cartoonbände von Sempé, und das ist kein Zufall, denn der Autor dieser Jugendreminiszenz namens „Town Boy“ – der 1951 geborene Mohammad Nor Khalid, der sich als Künstler Lat nennt – ist auch viel eher Cartoonist als Comiczeichner. Er nutzt das ungewöhnliche Format seines im malayischen Original 1981 erschienenen Buches für überwiegend ganz-, manchmal gar doppelseitige Einzelbilder, die aber trotzdem erst in ihrer Gesamtheit als Geschichte den ganzen Reiz entfalten. Und diese Bilder sind graphisch mindestens so eigenständig wie die von Sempé.

Obwohl man sich manchmal auch an den berühmten „Mad“-Zeichner Don Martin erinnert fühlt, wenn die Figuren mit verdrehten Beinen einherstolzieren. Kein Wunder, dass umgekehrt wieder der „Mad“-Veteran Sergio Aragones zu seinen größten Bewunderern gehört. Lat hat das Groteske zu seiner Domäne erhoben, aber die Figuren sind dabei immer noch sehr liebevoll porträtiert. Über allem liegt die Bezauberung eines Heranwachsenden für die neue Welt in der malaysischen Großstadt Ipoh, wohin er als Zwölfjähriger mit seiner Familie umgezogen ist. Zuvor lebte man in einem kleinen Dorf.

Auch über diese ländliche Kindheit hat Lat eine Geschichte gezeichnet, die in Frankreich 2003 als „Kampung Boy“ erschienen ist, aber den Band habe ich in Frankreich nicht erwerben können. Ich könnte ihn aber auch in fünfzehn anderen Sprachen suchen – auch auf Deutsch, denn dort ist Lats erster Comic 2008 beim Horlemann-Verlag erschienen und weitgehend unbeachtet untergegangen. „Kampung Boy“ war jedoch der Grundstein für Lats Erfolg in seiner Heimat, wo diese Kindheitserinnerung viele hunderttausend Mal verkauft und 1997 sogar zu einer Trickfilmfernsehserie wurde. Das hat ihm im Westen aber nur bedingt geholfen. Vom französischen Verlag Thé-Troc, der 2006 „Town Boy“ und zuvor auch schon „Kampung Boy“ herausgebracht hat, hört man auch nicht mehr viel Aktuelles. Ein großer Erfolg scheinen die französischen Übersetzungen von Lats Büchern somit ebenso wenig gewesen zu sein (deshalb gibt es auch keine Leseprobe im Netz, übrigens auch nicht von der englischsprachigen Ausgabe von „Town Boy“, die 2008 erschienen ist). Mein Band lag ja offenbar auch jahrelang im Laden herum.

Was darin erzählt wird ist nicht immens witzig, sondern auch interessant. Denn Hand aufs Herz: Was wissen die meisten Europäer von Malaysia? Ich jedenfalls wusste so gut wie nichts, wie ich dann gemerkt habe, denn dem Comic ist ein instruktives Vorwort zur malaysischen Nachkriegsgeschichte aus der Feder der Übersetzerin des Buchs, Christiane Kaddour, beigegeben, und vor allem Lats Schelmengeschichten, die dann folgen, lassen das Bild einer Gesellschaft in einer jungen Nation (Unabhängigkeit erst 1957) entstehen, die sich in allem erst noch finden muss. Ganz wie der Protagonist Lat selbst also, und durch diese Parallele der Kindheit von Hauptfigur und Land, wird subkutan sehr viel klar, was damals in dem südostasiatischen Staat geschehen ist.

Doch ungeachtet allen zeitgeschichtlichen und politischen Interesses an der Herausbildung einer Nation, die heute zu den sehr dynamischen in dieser Region gehört, herrscht die größte Freude über den unglaublich lebendigen Zeichenstil von Lat. Und über den Abwechslungsreichtum seiner Seitenarrangements, den Rhythmuswechsel der Bilder, das untrügliche Gespür für Bilddramaturgie durch Heran- oder auch Wegzoomen. „Town Boy“ ist geradezu ein Kompendium des Zeichnens und hat gleichzeitig durch seine Lockerheit des Strichs eine ästhetische Unschuld, die einem das Gefühl vermittelt, da sei jemand ganz aus dem Augenblick heraus, im Zuge der eigenen Begeisterung fürs Thema, ans Zeichenbrett gegangen. Es gibt selten solche Erlebnisse beim Comiclesen. Ich bin hin und weg.

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