Comic-Blog

dickensVariation auf „Oliver Twist“
von Andreas Platthaus

Warum heißt Will Eisners „Fagin the Jew“ auf Deutsch „Ich bin Fagin“? Das ist nur eine Frage, deren Antwort zurückzuführen ist auf das traurige Erbe des Antisemitismus, das dieser Comicband am Beispiel einer Figur von Charles Dickens zu korrigieren versucht

In diesem Band gibt es ein Vorwort von Brian Michael Bendis, dem derzeitigen Szenaristen der „Avengers“ und generell einem der bekanntesten Comic-Autoren der Vereinigten Staaten. Darin schreibt Bendis, dass er, als man ihn 2012 um dieses Vorwort bat, erst einmal an sein Regal gegangen sei, um nachzuprüfen, ob er den Band nicht schon habe. Denn es handelt sich um den Comic eines jener Zeichner, von denen man alles haben sollte: Will Eisner. Bendis aber besaß den Band nicht. Und mir ging es genauso, denn als mich jetzt die deutsche Fassung erreichte, trat auch ich vors Eisner-Regal und stellte fest: Fehlanzeige. Das ist noch blamabler, denn Bendis hat wenigstens nur die amerikanische Erstausgabe von 2003 versäumt, ich dagegen habe auch die Zweitausgabe übersehen, für die er sein Vorwort geschrieben hat.

Um welchen Band geht es? „Fagin the Jew“ aus Eisners späten Jahren (er starb 2005). Oder nun auf Deutsch: „Ich bin Fagin“. Die alles andere als wörtliche Übersetzung führt mitten hinein in das, worum es Eisner ging. Denn sein knapp hundertzwanzigseitiger Comic nahm sich einer literarischen Figur an, die als Inbegriff eines antisemitischen Klischees gilt: dem Bandenchef Fagin aus Charles Dickens 1837/38 in Fortsetzungen erschienenem Roman „Oliver Twist“. Dieser Fagin erscheint darin fast ausschließlich als „Fagin the Jew“ oder auch nur „the jew“, bis Dickens selbst den Roman dreißig Jahre nach der Erstpublikation überarbeitete und das Attribut fast überall strich. Aber da war das Buch längst schon so erfolgreich, dass die Figur Fagin in aller Gedächtnis war.

Sie ist in der Tat unvergesslich, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Ich habe „Oliver Twist“ über eine Kinderschallplatte kennengelernt, die eine radikal gekürzte und natürlich dramatisierte Version der Handlung bot, in der – wenn ich mich recht erinnere – keine Rede mehr davon war, dass es sich bei Fagin um einen Juden handelte. Das wäre bei einer wohl in den frühen siebziger Jahren produzierten deutschen Kinderschallplatte auch seltsam gewesen. Aber dass Fagin ein Erzschurke, der wahrhaft böse Geist dieser Geschichte ist, das wurde auch dem Kind, das noch gar nicht lesen konnte, sehr deutlich. Kaum ein anderer Roman ist derart in Schwarzweiß gezeichnet wie „Oliver Twist“.

Auch heute noch scheut man in Deutschland, wie die Übersetzung von Eisners Buchttitel zeigt, vor der pauschalen Bezeichnung als „der Jude“ zurück. Mit „Ich bin Fagin“ hat der Egmont Verlag eine exzellente Lösung gefunden, denn man muss diesen Titel lesen als eine Absetzung von Dickens: „Ich bin Fagin“, sagt die Hauptfigur aus Eisners Band, der böse Mann aus dem Roman ist es nicht, denn er ist reines Klischee. In einem Nachwort, das vor allem auf die zeitgenössischen Karikaturen in Dickens‘ Epoche und die konkreten Buchillustrationen zu „Oliver Twist“ verweist, erläutert Eisner akribisch, mit was für Vorurteilen im Roman gearbeitet wurde.

Dem setzt er mit seinem Comic eine andere Lesart entgegen. Die ganze Fagin-Geschichte aus „Oliver Twist“ bleibt erhalten, der Protagonist also weiterhin Kopf einer Bande jugendlicher Diebe, die ihm ihre Beute abliefert, damit Fagin sie als Hehler verkauft. Doch das radikal Böse dieser Figur wird von Eisner korrigiert. Bei ihm wird Fagin zum durch eine eigene dunkle Vergangenheit ins Elend Gestürzten, der in der antisemitischen englischen Gesellschaft des frühen neunzehnten Jahrhunderts gar kein anderes Auskommen finden kann als kriminelle Geschäfte. Dabei aber hilft er den Bettlerjungen, die für ihn klauen, zum Überleben, und er ist auch nicht der Denunziant und Intrigant wie bei Dickens, sondern jemand, der selbst vor den Verbrechen, die er begünstigt, zurückschreckt – eine janusköpfige Figur.

Damit ist die Eindimensionalität von Fagin gebrochen, und Eisner liefert uns die Zwischentöne zum Dickensschen Schwarzweißbild. Dass der amerikanische Zeichner das seinerseits in seiner fürs Alterswerk typischen lavierten Tuschetechnik tut, ist nur konsequent: Alle Grauschattierungen kommen hier zum Einsatz. Es ist im wörtlichen Sinne eine Graphic Novel, ein gezeichneter Roman, den wir hier geboten bekommen, und niemand anderer als Eisner hat ja diesen Begriff geprägt, als er 1978 seinen berühmten „Contract With God“ herausbrachte. Damals begann sein autobiographisch begründetes Interesse an jüdischer Geschichte und Kultur publizistische Früchte zu tragen, denn im „Vertrag mit Gott“ schilderte er die Welt der eigenen Kindheit in den zehner und zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in der Bronx, und spätere Bände kamen immer wieder auf die eigenen Erlebnisse als Jude in Amerika zurück, am stärksten 1991 in „To the Eye of the Storm“, in dem er seinen Eintritt in die amerikanische Armee schildert, mit der er Hitler bekämpfen wollte. Als Höhepunkt von Eisners Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus erschien dann kurz vor seinem Tod „The Plot“, sein dokumentarischer Comic über die Fälschung der angeblichen „Protokolle der Weisen von Zion“, in dem er die Publikationsgeschichte dieser berüchtigten Schrift recherchiert hatte. „Fagin the Jew“ war wenige Jahre zuvor eine Fingerübung dazu, hier ausgelöst durch einen Roman, der keine ähnlich verheerende Wirkung entfaltete wie die „Protokolle“, aber doch das negative Bild von Juden in ganz Europa mitprägte. Wie geschickt Eisner sich die Motive von Dickens zueigen macht, sei nur daran gezeigt, dass ganz zum Schluss herauskommt, dass auf Fagin eine reiche Erbschaft gewartet hat – genau wie auf Oliver Twist. Aber der Jude ist hingerichtet worden, wie es im Roman ja vorgeschrieben ist, wenn auch nicht mehr aus eigener Schuld wie bei Dickens, sondern weil ihm Sikes‘ Mord an Nancy hier zu unrecht in die Schuhe geschoben wurde. Die Moral: Oliver Twist und Moses Fagin sind gleich, aber Letzterer hat als Jude niemals eine Chance. Nur deshalb rutscht er ab in die Unterwelt, und aus ihr gibt es für ihn kein Entkommen.

Graphisch ist Eisner, der schon älter als achtzig war, als er „Fagin the Jew“ schrieb und zeichnete, immer noch auf der Höhe seines Könnens (Leseprobe hier). Allein das entsetzte Gesicht Fagins, auf das Eisner blendet, als Sikes Nancy erschlägt, ist schon ein Meisterwerk, nicht nur des elliptischen Erzählens in Bildern, sondern auch der Emotionalität. Wie immer arbeitet er auch ohne Panelumrahmungen, wodurch die Bilder in der Seitenarchitektur ineinander fließen und eine immense Dynamik schaffen. Der Kulturhistoriker und Comic-Kenner Jeet Heer erinnert in seinem Nachwort an Eisners Literaturadaptionen „Don Quijote“, „Hamlet“ und „Moby-Dick“, doch gerade im Verglech mit der Letztgenannten erweist sich die Stärke von „Fagin the Jew“: Bei der Übersetzung von Melvilles Walfang-Roman fiel Eisner nichts Originelles ein, bei der Variation auf „Oliver Twist“ dagegen ging er mit Herzblut zur Sache.

Dass er dabei selbst Klischees benutzt, dürfte ihm bewusst gewesen sein. Er war ja auch gebranntes Kind als Täter, denn in seiner Erfolgsserie „The Sprit“, die 1941 begonnen hatte, war das Zerrbild des schwarzen Jungen Ebony White harsch kritisiert worden – so heftig, dass Eisner (wie Dickens im falle Fagins) später einen Rückzieher machte, nur entfernte er dann Ebony White ganz aus der Serie. Dass Fagin bei ihm nun als Gaunerchef wie ein weißbärtiger Großvater gezeichnet wird, ist ebenso Absicht wie die gnadenlose Darstellung der staatlichen Autorität. Fagin indes als deutschstämmig zu bezeichnen, ist angesichts des alles andere als typischen Namens schon wieder fahrlässig, auch wenn verständlich ist, dass Eisner ihn der aschkenasischen Gruppe englischer Juden zuschlägt und nicht mehr, wie es die Illustrationen zu Dickens taten, den Sepharden. Denn die waren meist wohlhabend, hätten also gar keinen Grund zur Kriminalität gehabt, während die später ins Land gekommenen mitteleuropäischen Juden lange Zeit dem Bodensatz der Gesellschaft angehörten. Doch da merkt man wiederum, dass Eisner zwar viel Sekundärliteraturstudium betrieben hat und trotzdem sein amerikanisches Verständnis von Emigration und Integration dem europäischen einer anderen Epoche überstülpte.
Dem literaturgeschichtlichen Vergnügen bei der Lektüre dieses Komplementärromans zu „Oliver Twist“ tut das indes keinerlei Abbruch. Es macht nur noch neugieriger auf all das, was wir bis heute mit dem Bild „des Juden“ verbinden. Will Eisners Buch ist ein Antidot zur vergiftenden Macht des Zerrbildes.

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