Exklusiv: Fabian Lichter über Frankfurt

Der TITANIC-Redakteur und Journalist Fabian Lichter war 2016 Stipendiat des Sondermann e.V. – heute widmet er uns diesen Text.

Endstation Frankfurt

Ich stehe vor dem Bahnschalter und möchte gerne lösen. „Ui, des isch aber ganz schön weit, junger Mann“, warnt mich die Mitarbeiterin im Bahnhof meiner Geburtsstadt Singen am Hohentwiel, als ich – zum Zeitpunkt zarte 28 Jahre alt – alleine ein Ticket nach Frankfurt am Main erstehen möchte. Wir sorgen uns beide ein wenig. Sie sich um mich und ich mich sowieso um mich.

Hartes Pflaster Frankfurt. Während die Fahrkarte aus dem Drucker gekrochen kommt, blicke ich die Frau an und meine genau zu wissen, was sie in diesem Moment denkt: „Warum fährt der Kerle jetzt ausgrechnet nach Frankfurt? Auch noch zum Hauptbahnhof. Dabei haben mir hier so schöne Städtle zum anfahre bei uns im Landkreis und Umgebung: Orsingen-Nenzingen, Sipplingen, Gailingen, Dettingen, Orwingen, Frickingen, Kreuzlingen, Worblingen, Hilzingen, Steißlingen, Eigeltingen, Bermatingen – und der Seckel will ausgrechnet nach Frankfurt!“

Doch meine Geschichte ist zu kompliziert, um sie ihr jetzt und hier mal eben schnell erzählen zu können, also antworte ich mit einem knappen: „Ja, stimmt!“ Ich muss ja zur Titanic, nach Bockenheim. Nach Wald-und Wiesenschuljahren in den tiefsten Winkeln süddeutscher Provinznester, Jahren in Freiburg im Breisgau und zeitweise auch mal dem nordhessischen Kassel, einem Leben auf dem zweiten, dritten, vierten – jedenfalls einigen Bildungs- und Studienwegen, geht es nun in die verhältnismäßig große Stadt. Frankfurt! Hier haben schon Geistesgiganten wie Theodor W. Adorno, Eckhard Henscheid und Volker Bouffier Unglaubliches vollbracht. Sternchen wie Johann Wolfgang von Goethe und Sonya Kraus haben ihre Wurzeln in der Hessenmetropole. Was bringt mir die Zukunft? Kann ich auch nur ein bißchen so sein wie sie?

Andere sind hier gnadenlos abgeschmiert, zerbrochen. Weil sie zu naiv waren, zu träumerisch vielleicht, den Verlockungen des urbanen Lebens nicht widerstehen konnten, siehe Michel Friedman. Entsprechend aufgeregt stehe ich nun da. Das mögliche Scheitern, die Gefahren der Großstadt, alles im Hinterkopf. Das gefährlichste, das einem im heimischen Baden-Württemberg passieren kann, sind im Grunde nur die bisweilen leicht erhöhten Kalkwerte im Leitungswasser, Regenwetter oder Schnecken im Garten. Auch kein Pappenstiel, keine Frage. Aber in Frankfurt geht es richtig ab, das weiß ich. In Frankfurt, so stelle ich es mir vor, da fliehen die Schnecken freiwillig aufs Land.

Das also waren meine Gedanken, als ich einst nach Frankfurt fuhr, die ersten Tage liegen inzwischen längst wieder weit hinter mir, Ängste und Sorgen haben sich gelegt, man ist angekommen. Zwar habe ich bis dato weder ein philosophisches Hauptwerk hingelegt, noch ein Kokainproblem entwickelt, dennoch habe ich den Ticketkauf am Singener Bahnhof nicht bereut. Und Orsingen-Nenzingen habe ich bis heute nie gesehen!

Exklusiv: Ella Carina Werner über sterbende Alt-Banker

Die TITANIC-Redakteurin und Romanautorin Ella Carina Werner war 2015 Stipendiatin des Sondermann e.V., dem sie den folgenden Text widmete.

Weißes Konfetti.
Grüße aus dem Sterbehaus

„In der Deutschen Bank nennen sie es: das Sterbehaus.“
– DIE ZEIT, Nr. 43, 2015

Der Renzel wieder. Wie schlaff der über seinem Schreibtisch hängt und mit dem Kugelschreiber in der Ohrmuschel pult, der alte Pfeffersack. 89 Jahre alt und schon so arbeitsscheu wie ein bulgarischer Broker.

Er nicht. Achim Morst, 93 Jahre, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank 1979 – 1993. Noch immer kommt er jeden Tag ins Büro. Einmal Verantwortung, immer Verantwortung, da kann man sich nicht drücken, und zu Hause sitzt seine sabbernde Frau und lallt „Hoch auf dem gelbem Wagen“.

Jetzt gerade könnte er zum Beispiel mal wieder was lochen.

Gelocht hat er seit Tagen nicht. Den „Deutsche Bank Geschäftsbericht 2015“ aus der Schublade geholt und den Bürolocher auf Anschlag gebracht. Jetzt wird durchgelocht, bis zur Mittagspause, jetzt gibt’s weißes Konfetti, jetzt werden sie sorgfältig ausgestanzt, die Namen der neuen Vorstandsmitglieder.

Sterbehaus, sagen die 60jährigen Jungspunde aus den Zwillingstürmen zu diesem Nebengebäude. Stand sogar in der ZEIT: „In einem unscheinbaren Gebäude im Frankfurter Westend verbringen die alten Ex-Vorstände der Deutschen Bank ihre Tage“. Sterbehaus, so ein Blödsinn. Sterben will er lieber in den Armen einer schokofarbenen Nutte im Bahnhofsviertel, nur arbeiten will er hier.

Ganz schön anstrengend, das Lochen. Das geht in die Hände. Vielleicht mal wieder was tackern. Früher hat das alles immer Fräulein Tulpe gemacht. Fräulein Tulpe! Wie lasziv sie die 50-Pfennig-Briefmarke an die Lippen führte. Sie hackte auf ihre Schreibmaschine ein, er auf seinen Mitarbeitern, dreieinhalb Jahrzehnte in schönster Harmonie. Jetzt ist Fräulein Tulpes Haar auch schon grau und die Briefmarke kostet 62 Cent.

Jetzt gibt es eine Sekretärin für alle 17 Ex-Vorstände. Stapft in Hosen durch den Flur und erkundigt sich bellend, wer wieder seine tattrigen Finger in den Papierschredder gesteckt hat.

Siebzehn gestandene Männer, zusammengefercht in vier Büros. Drüben sitzt der Bömke, der Bub, der ist erst 79. Der progressive Herr hat sogar schon einen Computer.
Daneben der Rathmann, läuft den ganzen Tag den Flur auf und ab, diktiert schallend Telegramme an die Bank of Scotland und uriniert in den Schirmständer. Wir soll man sich da konzentrieren. Wie soll man da sauber tackern! Zum Beispiel gerade jetzt. Den silbernen Tacker in Stellung gebracht, zehn Blatt Papier übereinander gelegt und vorgestellt, es seien alle zehn Kinnlappen von John Cryan.

Der Fleißigste ist noch der Schmidt. Eine Lichtgestalt im Meer sackfauler Idioten. Blind wie ein Maulwurf, taub wie ein Krachmusik-Schlagzeuger und klapprig wie ein rumänischer Dacia, aber schnippelt Scherenschnitte aus alten Hausmitteilungen wie kein zweiter.

Und dann natürlich der Renzel. Wie teilnahmslos der aus dem Fenster glotzt, der tumbe Tattergreis, der ewige Widersacher, sein Intimfeind seit 65 Jahren. Früher haben sie sich mit Kraftausdrücken beworfen, heute mit mit ihren Gebissen, geändert hat sich sonst nichts.

Das Schlimmste ist nicht das Gemeinschaftsbüro. Das Schlimmste ist die Höhe, ist dieser mickrige Bungalow, flach wie eine Hongkonger Hostess. 1. Stock! Zwei Meter über der Erde, drei über seinem Grab. Da kann man nicht mal aus dem Fenster springen. Wie das aussähe. Die Sicherheitsleute klaubten einen aus der Hagebuttenhecke, die Hose wäre dahin und alle wären genervt. Früher hätte er stilvoll springen können. Im Flug hätte er noch einen doppelten Salto gemacht, auf die Passanten uriniert oder per Funkgerät 1.000 Mitarbeiter gefeuert, kein Problem. Früher saß er im 37. Stock von Turm A. Von dort aus sahen die Menschen aus wie kleine Küchenschaben. Von hier unten sehen sie immer noch aus wie Küchenschaben, nur erschreckend groß.

Im 37. Stock hocken jetzt die Jungen. Die Milchbärte, die Sitzpinkler. Gehen schon um 21 Uhr nach Hause. Zu ihren Ehefrauen! Die haben nicht mal den Kalten Bankenkrieg miterlebt und die Anfangsjahre des mafiösen Niedergangs dieses Hauses. Die wissen nicht mal, wo der Große Brockhaus steht. Der steht nämlich hier! Der Neue. Von 1996. Alle 24 Bände, Ziegenleder, aufgereiht auf dem Flur. Wenn er, Achim Morst, wissen will, wie viele Einwohner Yugoslawien hat, wie Wiedergeburt funktioniert oder was das Internet ist, schlägt er es einfach nach. Oder die Geschichte der Deutschen Bank. Die geht hier nur bis 1995. Ein Segen! Danach gings nur noch bergab.

 

Ella Carina Werner
Für den Sondermann e.V. in Frankfurt

 

Die Jury hat getagt!

Es ist soweit: Die Sondermann-Preisträger des Jahres 2017 stehen fest! Noch müssen wir die Gewinner geheimhalten; dafür verrät Ihnen der Sondermann e.V., welche Kandidaten den Preis garantiert nicht gewonnen  haben – in eigenhändigen Stellungnahmen der Verlierer.

„Ich bin mir ganz sicher, dass ich den Sondermann-Preis erhalten habe. Allerdings muss ich ihn irgendwie verlegt haben. Während des EM-Spiels gegen die Ukraine durchsuchte ich sogar meine Hose, und obwohl meine Finger preisverdächtig gerochen haben, konnte ihn auch dort nicht finden. Wären Sie bitte so freundlich und schicken mir die Auszeichnung noch einmal zu?“
– Jogi Löw, Eiermann

„Nehmen Sie beispielsweise diesen Sondermann. Als Preis schätzt ihn jeder, aber als Nachbarn möchte ihn keiner haben.“
– Alexander Gauland, Rechtspfleger

„Sehr geehrte Damen und Herren, bitte überweisen Sie mir die versprochene Bonuszahlung von 5000,00 Euro. Erst dann kann ich mich dafür einsetzen, dass der VW-Sondermann mit Nashornpaste-Antrieb gebaut wird.“
– Martin Winterkorn, Bonusmitnehmer

Die Preisträger 2016 stehen fest!

Die Sondermann-Preisträger 2016: Kapielski, Böhmermann
Die Sondermann-Preisträger 2016: Kapielski, Böhmermann


Sondermann-Preis für Thomas Kapielski und Jan Böhmermann

Thomas Kapielski bekommt den Sondermann 2016, weil er seit über dreißig Jahren in Wort, Bild und Ton Erbauliches, Erstaunliches, Erleuchtetes und vor allem sehr Komisches vorgelegt hat. Sei es als Professor für Performance, als Gottesbeweiser oder Experte für „Neue Sezessionistische Heizkörperverkleidungen“, als Fotograf und Objektkünstler, als Stammtischsoziologe und Vortragsartist. Ein verehrungswürdiger Künstler, dem der Ruhm immer wichtiger war als der Erfolg. An seiner Preiswürdigkeit besteht kein Zweifel. Um es mit einem seiner Ausstellungstitel zu sagen: „De dingsbums non est disputandum.“ Den Sondermann-Förderpreis erhält Jan Böhmermann. Wenn sich jemand auf das obsolete Unternehmen TV-Unterhaltung einlässt, jemand, der noch jung genug ist, aus seinem Leben etwas Besseres, womöglich Sinnvolles, zu machen, so verdient das unseren Respekt. Einen solchen Mann wollen wir fördern.

Der Sondermann-Preis ist der höchstdotierte Preis für komische Kunst in Deutschland. Hauptpreisträger Thomas Kapielski erhält 5000 Euro, der förderungswürdige Jan Böhmermann 2000 Euro. Der Preis wird am 11.11.um 20:00 Uhr in der Frankfurter „Brotfabrik“ im Rahmen einer großen, öffentlichen Gala verliehen. Die Preisträger sind anwesend und tragen aus ihren Werken vor.

Madame la Présidente Le Pen

unbenanntFrancois Durpaire wagt in seinem von Farid Boudjellal gezeichneten Comic „Die Präsidentin“ eine Prognose für die französische Präsidentschaftswahl 2017. Wehe uns und Frankreich, wenn das so käme
von Andreas Platthaus

Ein prophetischer Comic? Gab es das schon einmal? Über „Eternauta“ von Hector Gérman Oesterheld ist das jüngst wieder gesagt worden, als diese argentinische Geschichte aus den späten fünfziger Jahren erstmals auf Deutsch erschien. Zu genau hatte Oesterheld darin die Atmosphäre der Angst und des Terrors vorweggenommen, die fast zwanzig Jahre nach Erscheinen von „Eternauta“ unter der Junta in Argentinien herrschen sollte. Aber dass Oesterheld selbst verschleppt wurde und seitdem verschollen ist, seine vier Töchter erschossen wurden – das hätte sich niemand träumen lassen, auch nicht nach der skeptischsten Lektüre des Dystopie „Eternauta“. Er wollte ja auch gar nichts vorhersagen, sondern nur eine abenteuerliche Geschichte erzählen.

Bei „Die Präsidentin“ verhält sich das anders. Deren Szenarist Francois Durpaire hat den Ehrgeiz, eine Prognose zu erstellen für den Ausgang der kommenden französischen Präsidentenwahl und der daraus resultierenden Ereignisse. Vier Prämissen zählt er im Vorwort auf, die erfüllt werden müssten, um seine Vorhersage eintreten zu lassen: „Erstens, Nicolas Sarkozy gewinnt die Vorwahl bei den Rechten; zweitens, es gibt eine starke Kandidatur der Mitte, das heißt eine zweite Kandidatur im Lager der Republikaner; drittens, Sarkozy wird infolge dieser Spaltung der Rechten chancenlos, die aber, viertens, auch dazu führt, dass keine Stimmen aus dem bürgerlichen Lager an den Kandidaten der Linken, Francois Hollande, gehen.“ Dann werde Marine Le Pen siegreich aus der Präsidentschaftswahl hervorgehen.

Die erste Bedingung scheint sich zu erfüllen, denn Sarkozy hat seine Kandidatur angekündigt; dass er Konkurrenz aus der eigenen bürgerlichen Rechten bekommen wird, dürfte auch so gut wie sicher sein. Unwahrscheinlich scheint derzeit von den vier Bedingungen nur die zu sein, die Durpaire sicher für die am leichtesten vorhersagbare hielt, als er das Vorwort vor fast einem Jahr verfasste: dass Francois Hollande für die Sozialisten antreten wird. Der amtierende Präsident ist so unpopulär, dass er nicht einmal sicher in die Stichwahl von 2017 zu kommen hoffen dürfte. Dadurch könnte sich der Lauf der Dinge ändern, denn Marine Le Pen hätte in der Stichwahl gegen einen Kandidaten der (weniger) Rechten wohl keine Chance.

Aber schon die Tatsache, dass man fast sicher damit rechnen muss, dass die Kandidatin des Front National die Stichwahl erreichen wird, zeigt, wie nahe das Modell von Francois Durpaire der Realität ist. Gemeinsam mit dem Zeichner Farid Boudjellal hat er im vergangenen Herbst für Furore gesorgt, als in Frankreich der Comic „La Présidente“ erschien – auf dem Cover eine breit lächelnde Marine Le Pen in der Pose, die sie für das Porträtbildnis wählen wird, das nach ihrer Wahl in allen französischen Amtstuben zu hängen hat. Dieser Comic wurde ernst genommen bei unseren Nachbarn, weil er ungeachtet seiner spannenden Rahmenhandlung um eine kleine Gruppe, die zivilen Widerstand gegen Le Pens Politik leistet, höchst sachlich Vermutungen zusammenträgt, wie die Dinge laufen könnten, und sie dann in eine Chronik der Ereignisse des Jahres 2017 verwandelt. An dessen Ende ist das Spiel offen: nicht gewonnen für den Front National, aber eben auch nicht verloren.

Dass der Band jetzt auf Deutsch erscheint (beim Verlag Jacoby und Stuart) und zudem der Frankreich-Kenner Ulrich Wickert ein Vorwort beigesteuert hat, zeigt, wie ernst man seine Erzählung auch hierzulande unter Experten nimmt. Durpaire konnte bei Abfassung seines Szenarios das Ergebnis des Brexit-Votums noch nicht kennen; in der deutschen Übersetzung ist es eingearbeitet, und dadurch wird der Lauf der Dinge noch plausibler. Alle Akteure auf dem politischen Feld sind reale Figuren, man wird also deren Verhalten im Licht des Comicgeschehens in der nahen Zukunft überprüfen können. Dass Marine Le Pens Vater als ehemalige Galionsfigur des Front National bald nach dem Wahltriumph seiner Tochter stirbt, ist natürlich gewagte Fiktion, aber mit dem für ihn ausgerichteten Staatsbegräbnis findet Durpaire ein starkes Symbol für die neue herrschende Klasse – und einen deutlichen Bezug zur Anfangszeit des „Dritten Reichs“, das Hindenburgs Tod zum Anlass eines Staatsakts machte, in dem das neue Selbstverständnis von Herrschaft vorgeführt wurde.

Gegen die komplexen und genau recherchierten Darstellungen der politischen Akteure wirken die Widerstandskämpfer wie Klischees. Eine über neunzigjährige Resistance-Veteranin ist der Spiritus rector, unter ihren Verbündeten ist eine bildhübsche Migrantin, die natürlich irgendwann deportiert wird. Aber selbstverständlich kann sich Frankreich nicht zur Gänze unheroisch zeigen, und wenn’s der Aufklärung dient, möge es eben so sein. Boudjellals Schwarzweißzeichnungen mit Graustufe simulieren dokumentarische Berichte und taugen dank ihrer vor allem auf Porträtähnlichkeit ausgerichteten Ästhetik (französische Leseprobe hier). Wer allerdings große Polit-Comics à la Tardi oder Blain erwartet, in denen die Graphik auf einer Höhe mit den Texten steht, der wird hier enttäuscht. „Die Präsidentin“ lebt von ihrem Stoff, nicht von ihrer Form.

Mit diesen 150 dichten Seiten wird man die kommenden siebeneinhalb Monate bis zur französischen Präsidentschaftswahl vergleichen müssen. Hoffentlich die darauf folgenden sieben bis zum Dezember 2017 nicht auch noch.

Comic-Blog

UnbenanntAbstrakter Krieg erschreckt genauso
von Andreas Platthaus

Ein erstaunliches Buch: Sebastian Rether widmet den Erinnerungen seines rumänischen Großvaters an den Zweiten Weltkrieg einen Comic, der bei aller Reduktion so brutal und unerträglich ist wie die klassischen Arbeiten zum Thema.

Vor vielen Jahren, genauer gesagt mehr als einem Vierteljahrhundert, publizierte Lorenz Mattotti sein Comicalbum „Feuer“ über den Ersten Weltkrieg, im Original „Fuochi“. Danach war der italienische Zeichner berühmt, denn was er da mit Farben und Formen anstellte, hatte man noch nicht gesehen. Und es trieb Mattotti dazu, sich in der Folge auch als Schwarzweißkünstler zu beweisen, um nicht ausrechenbar zu sein. So erwuchs aus dem „Feuer“-Ruhm eine der bemerkenswertesten Comic-Karrieren der Welt.

Jetzt erschient ein weiterer Band mit dem Namen „Feuer“, aber er kommt als das genaue Gegenteil von Mattottis Werk daher: Sebastian Rether, geboren 1985, legt seine Geschichte als kleinformatiges Buch (Graphic-Novel-Format schimpft man das im Buchhandel) an, alles ist schwarzweiß, die Geschichte spielt im Zweiten Weltkrieg, und statt graphischem Detailreichtum, der die Seiten schier bersten lässt vor Energie, ist hier alles ganz reduziert. Dabei wird den meisten Bild eine ganze Doppelseite eingeräumt, aber die riesigen Weißräume um die filigranen Tuschezeichnungen, deren Abstraktionsgrad erstaunlich an das französische Zeichnerduo Ruppert & Mulot erinnert, sollen bewusst Lücken deutlich machen. Denn es geht um die lückenhaften Erinnerungen des Großvaters von Rether, der als Siebenbürger auf rumänischer (und damit auch deutscher) Seite im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront kämpfte. Deshalb heißt der Band auch nicht nur „Feuer“, sondern auch „Foc“. Das ist das rumänische Wort für Feuer.

Das in der Edition Büchergilde erschienene Buch ist wunderschön gestaltet, mit einem wie aus Washi-Papier geklebten Umschlag und in sachlicher Grotesk-Typographie gesetzt, übrigens größtenteils auch im Inneren, das wenig Text enthält. Der besteht zu wesentlichen Teilen aus kargen Erinnerungsfetzen des Großvaters, wie Bildbeschriftungen in einem Fotoalbum. Nur selten sprechen die Protagonisten, und dann hat Rether das in Schreibschrift gehalten. Die großväterlichen Textblöcke wiederum scheinen manchmal zu schwanken, als suchten sie nach ihrer Bestätigung. Ortsbeschilderungen wiederum etwa sind in einem nahezu unleserlichen Krikelkrakel gehalten, das auf die Probleme der Invasionstruppen bei der Lektüre kyrillischer Buchstaben verweist. Was man mit Schrift in Comics alles machen kann, ist bemerkenswert.

Ist es überhaupt ein Comic? Seitenarchitektur, könnte man meinen, existiert nicht, wo jede Doppelseite im Regelfall nur aus einem Bild besteht (und der 360 Seiten umfassende Band also auch nicht mehr, sondern eher weniger Bilder umfasst als ein stinknormales 48-Seiten-Album). Aber wie Rether diese feinlinigen Motive auf der weißen Fläche arrangiert, das hat mindestens so viel Überlegung gekostet wie ein aufwendiges Layout. Dass die geradezu blendende Leere die Weite des russischen Winters evoziert, ist natürlich gewollt.

Gesichter gibt es kaum in „Foc – Feuer“, die Flächen unter den Stahlhelmen bleiben meist blank. Nur gelegentlich sind einzelne Protagonisten als Hunde (der Großvater selbst etwa) oder schildkrötenähnliche Wesen gestaltet, einmal laufen Soldaten wie Strichmännchen durchs Bild. Dagegen sind Pferde oder Kühe nahezu naturalistisch gehalten – als könnte sich der Erzähler Tiere viel besser merken als Menschen.
Es ist die Geschichte eines Davongekommenen, und sie erzählt mit jenen schlichten Mitteln, die große Erlebnisse besser vertragen als hohes Pathos. In 26 Kapiteln werden oft belanglos erscheinende Begebenheiten geschildert, die aber für den naiven Soldaten, der da berichtet, Bedeutung durch ihre Fremdartigkeit besitzen. Kriegsvoyeurismus dagegen gibt es nicht, die Schrecken spielen sich in unserer Phantasie ab, wir können sie uns in die Weißräume hineindenken, deren klinische Sauberkeit wie ein Hohn auf Blut und Schmutz der Kriegsführung erscheint.

Und damit fügt Rether der bereits eindrucksvollen Reihe von Comic-Klassikern zum Thema Krieg (Tardis „Grabenkrieg“, Spiegelmans „Maus“, Guiberts „Alans Krieg“, um nur die Allerbesten neben Mattottis „Feuer“ zu nennen) eine weitere, nein: nicht schillernde, sondern eben bewusst bescheiden auftretende Facette hinzu, die aber mit Mitteln arbeitet, die auch von Grosz oder Dix entlehnt sein könnten, von jenen Künstlern also, die so wichtig für die genannten Comic-Legenden waren, ohne dass die sich des graphischen Geschicks dieser Vorläufer so subtil bedient hätten, wie „Foc – Feuer“ es tut.

Comic-Blog

UnbenanntDortmund im Schatten des Hakenkreuzes
von Andreas Platthaus

Tief im Westen ist es schlechter, viel schlechter, als man glaubt: Nils Oskamps autobiographischer Comic „Drei Steine“ erzählt über die Anwerbung von Neonazis und deren Methoden in einer Realschule der achtziger Jahre
 
Würde Nils Oskamp, ein 1969 im Ruhrgebiet geborener Comiczeichner, nicht mit so großer Verve für die Authentizität der von ihm erzählten Geschichte einstehen, man könnte kaum glauben, was in „Drei Steine“ geschildert wird. Da wird Oskamp, damals vierzehn Jahre alt, in aller Öffentlichkeit zusammengeschlagen, und niemand kümmert sich darum. Da lässt ein ewiggestriger Musik- und Geschichtslehrer seine Klasse das Deutschlandlied singen und bedauert, dass die erste Strophe verboten sei – bevor er Strategien ersinnt, wie die Schlacht von Stalingrad doch zu gewinnen gewesen wäre. Da will die Leitung einer Realschule nichts von Übergriffen durch Neonazis auf dem Schulgelände hören und schickt dem verprügelten Oskamp einen Tadel wegen Zuspätkommens nach Hause. Da hören nicht einmal seine Eltern Oskamp zu. Und da liest der schon damals von Comics begeisterte Schüler gegen das Verbot seiner Lehranstalt „Asterix“ und findet dort im Gotenband einen Dialog, den er dreißig Jahre später dem eigenen Sohn vorliest: „Ich dachte, die Römer spinnen, aber die Goten spinnen noch viel mehr.“ „Du hast recht, Obelix, ich möchte an diese Idioten keinen Zaubertrank verschwenden, hau sie um!!!“

Jeder Asterix-Kenner weiß, dass es diesen Dialog nicht gibt. Und daran kann auch Oskamps Emphase nichts ändern. Warum erfindet er diese Textpassage? Weil Spott über die Deutschen, oder besser gesagt: über deutschen Nationalismus, mehr als angebracht ist angesichts seiner Erlebnisse mit der Dortmunder Neonazi-Szene, und wenn ihm darin seine Lieblingscomicserie bespringt, umso besser. Aber warum dann nicht ein authentisches „Asterix“-Zitat nehmen, wo es doch im Goten-Band fürwahr genug Szenen gibt, in denen sich die Deutschen lächerlich machen („Die anderen Chefs lachen“)? Zumal derart leicht nachprüfbare Fehlzitate doch die ganze Glaubwürdigkeit von „Drei Steine“ diskreditieren.

Aber Neonazis lesen „Asterix und die Goten“ mutmaßlich nicht, und wenn sie den im Panini Comicverlag erschienenen „Drei Steine“ lesen sollten, dürften sie auf eine Geschichte stoßen, die sie nicht bestreiten können. Denn dem eigentlichen Comic folgt eine umfangreiche Dokumentation der neonazistischen Umtriebe in Dortmund von den siebziger Jahren bis heute, und dass es in dieser Stadt diesbezüglich hoch hergeht, hat ja vor Jahresfrist auch schon David Schravens fulminanter semidokumentarischer Comic „Weisse Wölfe“ belegt. In gewisser Weise liefert Oskamp nun die Vorgeschichte dazu, denn in „Drei Steine“ wird die Keimzelle für das Aufblühen der Dortmunder Neonazi-Szene beschrieben: die Rekrutierung von Schülern, die dann in ihrem Umkreis Furcht und Schrecken verbreiten und dank des Desinteresses oder gar der Unterstützung von  Erwachsenen keine Nachteile befürchten müssen. Es sei denn, jemand ließe sich nicht so einfach unterkriegen.

Der Nils des Comics ist so ein Unbeugsamer, er bietet den Rechtsextremen nicht nur verbal, sondern auch körperlich Paroli. Die Kraft zum Widerstand zieht er aus dem Wissen um die Ereignisse im „Dritten Reich“. Wer sie ihm vermittelt hat, bleibt leider unbekannt, denn die Schule war es ja wohl nicht. Wobei im Comic zwei Geschichtslehrer von Nils auftreten, und einer von ihnen macht die Schoa zum Gegenstand seines Unterrichts. Wieso dann der Musiklehrer in der Klasse auch noch Geschichte lehrt, ist schwer verständlich.

Es gibt leider viele solche Nachlässigkeiten in der Konstruktion des heroischen Plots, die einem der sieben im Impressum genannten Lektoren ebenso hätten auffallen können wie den weiteren drei „Supervisoren“ (was auch immer sie getan haben). Aber alle waren offenbar ebenso fassungslos über die eigentliche Geschichte wie ich, weil man derartige Geschehnisse  gar nicht glauben will. Zu Oskamps Realschulzeiten war auch ich Schüler in Nordrhein-Westfalen, und es gab in meinem ländlichen Städtchen nichts Vergleichbares. Aber das, was Oskamp erlebt hat, ist tatsächlich überprüfbar, bis hin zu konkreten Beteiligten, die in diesem Comic auftreten. Und manchmal lässt man sich von einer guten Absicht zu sehr ablenken, als dass man noch auf die handwerklichen Details einer Comicerzählung achten würde.

Die Absicht verdient deshalb hier mehr Respekt als die Ausführung. Denn wie in „Drei Steine“ erzählt wird, das ist eher schlicht geraten, vor allem wenn man es mit dem erst kürzlich erschienenen Band „Fahrrad-Mod“ von Tobi Dahmen vergleicht, der zwar nur nebenher vom Erstarken einer rechten Szene (am Niederrhein, also nicht weit weg von Dortmund) erzählt, aber das sehr viel subtiler tut. Bei Oskamp sind die Rollen derart in Schwarz und Weiß oder noch besser gesagt: Braun und Weiß geschieden, bis hin zur Kleidung der Protagonisten, dass man das zugrundeliegende Geschehen wahrnimmt wie ein Lehrstück, bis hin zur überraschenden Rettung in letzter Sekunde durch einen geläuterten Mitschüler oder die Selbsterkenntnis, dass der Weg der Gewalt eine Sackgasse ist.
Aber dabei muss man eben im Auge behalten: So ist es gewesen. Oskamp dokumentiert sogar fotografisch, wie er selbst 2011 den dritten der drei Steine, die dem Comic den Titel geben, in der Holocaust-Gedenkstätte von Yad Vashem abgelegt hat; mit dem ersten der von einem Dortmunder jüdischen Friedhof mitgenommenen Steine hatte der vierzehnjährige Nils einen Angreifer beworfen, mit dem zweiten einem anderen fast den Schädel eingeschlagen – ehe sich der Schüler besann und es bei der Drohung beließ. So werden die drei Steine zum Lernprozess: Auf Selbstverteidigung folgen Vernunft und Erinnerung. Alle drei zusammen ergeben die von Oskamp empfohlene Abwehrstrategie gegen rechte Überzeugungen.

Eingebettet ist diese Erinnerung ans Jahr 1983/84 in eine Rahmenhandlung, die Oskamp im Gespräch mit seinem kleinen Sohn zeigt. Diese Passagen sind in einem warmen Bronzeton gehalten, während die Schilderungen  aus der Vergangenheit in kaltes Blaugrau getaucht sind (hier zu sehen). Aber wenn Nils zusammengeschlagen wird, bekommt sein Blut rote Zusatzfarbe spendiert; die rechten Aggressoren, denen es auch nicht immer gut ergeht, müssen darauf verzichten. Ja, dieser Comic ist einseitig bei der Nutzung seiner erzählerischen Mittel. Dass das die gute Seite stärkt, ist erfreulich, aber man hat es hier doch nicht mit einem manichäischen Superhelden-Comic zu tun. Das wahre Leben verlangt nach komplexeren Darstellungen.

Der Anhang, in dem Alice Lanzke von der Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich gegen rechte Gewalt einsetzt, die Entwicklung der Dortmunder Neonazi-Szene Revue passieren lässt, löst das besser ein als der vorangegangene Comic, obwohl auch hier ganz klar Position bezogen wird. Daran gäbe es auch gar nichts zu kritisieren; was stört, ist, wie leicht sich Nils Oskamp als Autor die Sache macht. Damit will ich auch nicht die fast hundertzwanzigseitige Geschichte kleinreden, wohl aber dafür sensibilisieren, dass eine eindeutig positiv zu bewertende moralische Haltung nicht der Sorgfalt beim Erzählen enthebt.

Comic-Blog

UnbenanntSchöner kann es am Meer selbst nicht sein
von Andreas Platthaus

Wollen Sie einen richtig preiswerten Strandurlaub mit allen Schikanen erleben? Dann geben Sie 24 Euro für den meisterlichen Comic „Rein in die Fluten!“ aus

Am vergangenen Wochenende feierte der Berliner Reprodukt Verlag seinen 25. Geburtstag, und ein schöneres Geschenk konnte er sich selbst (und uns) kaum machen als den Band „Rein in die Fluten!“ Geschrieben, aber auch mitgezeichnet hat ihn Pascal Rabaté, einer der besten französischen Szenaristen (und Zeichner); gezeichnet, aber auch mitgeschrieben David Prudhomme, einer der besten französischen Zeichner (und Szenaristen). Gemeinsam sind sie ein Traumduo, wie sie vor einigen Jahren bereits mit ihrer Kooperation „Die Plastikmadonna“ bewiesen haben.

Allerdings muss man sagen, dass sich dieser damals bei Carlsen erschienene wunderbare Comic, der den französischen Alltag am Beispiel einer angeblichen Wundererscheinung auf höchst skurrile und amüsante Weise unter die Lupe nahm, in Deutschland miserabel verkauft hat. Umso wichtiger und leider auch mutiger, dass Reprodukt nun den zweiten Band der beiden herausbringt. Aber da die Solowerke der Autoren (jeweils sensationell: „Rembetiko“ und „Einmal durch den Louvre“ im Falle Prudhommes sowie „Bäche und Flüsse“ von Rabaté) ohnehin schon ihre deutsche Heimat bei dem Berliner Verlag gefunden haben, ist die Übernahme des Gemeinschaftsalbums nur konsequent.

120 Seiten lang ist es, und es erscheint im richtigen Moment, zum Beginn des Sommers. Denn in „Vive la marée“ (wörtlich „Es leben die Gezeiten“, aber auch „Hoch lebe die Flut“ im Sinne von Menschenmassen), wie der Comic im Original heißt, geht es um Strandurlaub. Der deutsche Titel ist etwas ranschmeißerisch, hat dafür aber ein subtileres Umschlagbild, auf dem man etliche Schwimmer aus Unterwasserperspektive sieht, darunter ein Paar, das sich in einer Pose umarmt, die Prudhomme einer Gemäldeserie des italienischen Kollegen Lorenzo Mattotti abgeschaut hat. Dieser augenzwinkernde Gruß ist das I-Tüpfelchen eines Buchs, das unter anderem eben auch eine gigantische Hommage ist.

Allerdings nicht an einen anderen Comic, sondern an einen Film: Jacques Tatis „Ferien des Monsieur Hulot“. Nicht, dass Rabaté und Prudhomme Figuren, Handlungsort oder Verlauf zitierten, aber sie übernehmen das wichtigste dieses Films: die Struktur. Wie bei Tati wird die große Strandgesellschaft individualisiert, und wir verfolgen in winzigen Episoden mit immer neuen Konstellationen das Geschehen am Meer. Dabei geben die Figuren gewissermaßen nach ein, zwei Seiten den Staffelstab an andere Protagonisten ab, quasi im Vorbeigehen, indem plötzlich die Aufmerksamkeit bei einem anderen Badegast hängenbleibt und man ihn für eine Weile verfolgt. Und es passiert ähnlich wenig im Comic wie in Tatis Film, doch es ist genauso komisch und entlarvend.

Wie in „Die Ferien des Monsieur Hulot“ beginnt alles mit der Anreise (Leseprobe hier), wahlweise mit Auto oder Zug, und schon durch die Verhaltensweisen der Beteiligten dabei werden sie charakterisiert: als Angeber, Geizhälse, Querulanten die Erwachsenen, während die Kinder als unschuldige Staffagefiguren fungieren, die zwar bisweilen selbst die Handlung vorantreiben, aber nie jene Blasiertheit oder Arroganz zeigen, die ihre Eltern auszeichnet. Den unschuldigen Tor allerdings, wie Hulot es ist, den gibt es hier nicht. Als einzige rundum sympathische Handlungsträger treten lediglich zwei Anstreicher auf, die den ganzen Tag lang mit dem Lackieren von Metallzäunen beschäftigt sind. Man darf darin wohl ein Selbstporträt von Rabaté und Prudhomme erkennen.

Was den Comic aber erst zur veritablen Meisterleistung macht, ist die graphische Konzeption. Dass sich ein Strand ideal zur Inszenierung einer Comicgeschichte eignet, ist evident: Vor der weiten weißen Fläche zeichnet sich das Geschehen im buchstäblichen Sinne perfekt ab. Zudem aber wählen die beiden Autoren für ihre Geschichte höchst ungewöhnliche Perspektiven, nämlich meist die von am Strand Liegenden, also aus extremer Untersicht, verbunden mit Überlagerungen von Bildebenen, die kleine Elemente im Vordergrund in optischen Gleichklang mit größeren weiter hinten bringen. Das schönste Beispiel ist die Ankunft eines ebenso dick- wie weißbäuchigen Herrn am FKK-Strand, den er über eine Düne zu erreichen scheint, die sich durchs Wegzoomen der Betrachterposition als unbekleideter Körper einer jungen Frau erweist. Oder ein kleines Mädchen kadriert mit den Fingern einzelne Badeszenen zu Bildern auf einem imaginierten Smartphone, die es dann beliebig vergrößern oder verkleinern kann. Und das Tolle ist, dass die Comicbilder dieses Spiel mitzumachen scheinen, bis dann doch einmal eine Wischbewegung des Kindes scheitert und die Illusion zerstört.

Klüger ist seit vielen Jahren kein Comic mehr in Szene gesetzt worden, und wenn man überhaupt ernsthafte Vorläufer oder Konkurrenz nennen sollte, so müsste man wohl auf Erzählrevolutionäre wie Marc-Antoine Mathieu oder David B. verweisen. Im Mainstreamcomic aber, und dazu zählt „Rein in die Fluten!“, der sich im vergangenen Jahr in Frankreich exzellent verkauft hat (glückliches Comicland!), hat es eine so ausgefuchste Verschränkung von Verlauf und Visualisierung noch nicht gegeben. Und die Dialogregie in der gewohnt sorgfältigen Übersetzung von Uli Pröfrock tut das Ihrige dazu, dass man staunend weiterliest, denn wie es Rabaté und Prudhomme gelingt, sowohl das dauerhafte Gemurmel des Strandlebens wie die Freudenjauchzer und Zurufe abzubilden, das wäre eine eigene Analyse wert. Dieser Comic führt so ziemlich alles vor, was man überhaupt graphisch erzählen kann.

Doch nichts davon wirkt aufgesetzt oder gar manieriert. Dieser Comic, der nur einen einzigen heißen Sommertag porträtiert, aber dabei gleich Dutzende von Menschen und deren Marotten, verhält sich in der Erzählhaltung so selbstverständlich wie die Flut am Strand selbst. Immer wieder rollen deren Ausläufer an, ziehen sich scheinbar wieder zurück, und setzen doch schließlich alles unaufhaltsam unter Wasser. Auch dieser Geschichte kann man nicht entkommen.

Wir sehen die Rentner und die Tätowierten, die Sportler und die Sonnenanbeter, die Schönen und die Schlaffen, die Dreisten und die Scheuen, die Frauen und die Männer, die Menschen und die Tiere. Wir sehen einen Badeort, als bewegten wir uns mit den Protagonisten durch dessen Straßen. Und wir sehen nicht nur den Strand, wir fühlen, riechen, hören ihn. Und irgendwo mittendrin sind auch wie selbst. Man muss nur sehr genau hinsehen, -fühlen, -riechen, -hören. Aber das ist ein einziges Vergnügen. Herzlichen Glückwunsch dem Verlag und den Lesern dieses Comics.