Andreas Platthaus: Seltsam geht es zu in Oddleigh

Nomen ist hier wirklich Omen, nicht nur beim Handlungsort, sondern auch beim Namen der Autorin: Die englische Kinderbuchautorin Tor Freeman beweist mit ihrem ersten Comic eine Freiheit im Erzählen, die generationenübergreifenden Tiefgang wagen kann, ohne die kindliche Freude an der Skurrilität ihrer Figuren zu mindern.

Tor Freeman war mir kein Begriff, bis vor einem Jahr die zweite Ausgabe des Kindercomicmagazins „Polle“ herauskam, die eine Kurzgeschichte der britischen Zeichnerin enthielt: „Der Fluch von Lorringham“. Die war so witzig und zugleich ungewöhnlich, dass ich gerne mehr gelesen hätte, und nun hat der Reprodukt-Verlag mir den Gefallen getan und einen ganzen Band von ihr ins Deutsche übersetzt, in dem sich auch die wunderbare Kurzgeschichte wiederfindet, aber dazu noch vier weitere, die alle gemeinsame Abenteuer der Chefinspektorin Jessie und des ihr untergebenen Sergeanten Sid zum Gegenstand haben. Nach dem Ort, in dem diese beiden Polizisten stationiert sind, heißt der Comic: „Willkommen in Oddleigh“.

Der Name mit der charakteristischen Ortsendung „-leigh“ lässt phonetisch „oddly“ anklingen – seltsam, eigenartig. So geht es in der Tat in ganz Oddleigh zu, nicht nur im dort gelegenen Herrenhaus Lorringham, wo Jessie und Sid einen gruseligen Spuk zu überwinden haben. Andere Episoden drehen sich um das Auftauchen des eigentlich ausgestorbenen Pterodaktylus als leicht wiederzubelebendes Fossil in den Kreideklippen von Oddleigh, um einen obskuren von Schmetterlingen betriebenen Verwandlungskult oder um einen muttergeschädigten Zahnarzt. Die große Kunst von Tor Freeman aber liegt nicht im schieren Aberwitz ihrer Tierfiguren, sondern im Anspielungsreichtum dieser Geschichten für Kinder, an denen deshalb Erwachsene allemal auch ihren Spaß finden.

Der Dentist etwa – ein klassisches Objekt freudianischer Analyse. Die Raupen – Sinnbilder religiöser Verblendung. Der Flugsaurier – Stellvertreter für die Integration von Migranten. Und doch muss man all diese Bezüge zur Wirklichkeit nicht wahrnehmen, um Tor Freemans Comics zu schätzen. Da sie auch noch äußerst liebevoll gezeichnet sind, wäre schon der Niedlichkeitsfaktor ausreichend dafür (zu überprüfen anhand der Leseprobe).

Dadurch kaschiert Freeman die hinter den harmlos anmutenden Geschehnissen mittransportierten ernsten Themen wie Lieblosigkeit, Einsamkeit oder Fanatismus. Oder Neid wie in der noch nicht angesprochenen Episode „Die Leibwächter“, in der eine Familie von berühmten Popsängern (man möge hier je nach Belieben die Kelly Family oder die Jackson 5 als Vorbild vermuten) bedroht wird. Das ist die einzige wirklich Kriminalgeschichte im Band mit den beiden Polizisten als Hauptfiguren, und auch da gelingt es Freeman, eine psychologische Tiefe ins scheinbar oberflächlich-kindliche Erzählen einzubauen, dass man staunt. Schon allein, wie sie eine beginnende Liebe zwischen Inspektorin Jessie und dem bedrohten Lead-Sänger zu inszenieren versteht, ist ein kleines Meisterstück. Man könnte hier noch viel mehr sagen über diesen wunderschönen Comic, aber die durch Verzicht darauf eingesparte Zeit sollte man nutzen, um sofort loszulesen.

Andreas Platthaus: Geistreiche Gespenstersage für junge Leser

Ulf K. und Patrick Wirbeleit starten eine neue Serie mit kindgerechtem Grusel: Der Titelheld von „Alan C. Wilder Ltd.“ ist ein Junge, der Hilfe vom Geist seines verstorbenen Vaters erhält.

Vor ein paar Jahren kam Ulf K.s Comic „Der Anfang nach dem Ende“ als Buch heraus, selbst wiederum ein paar Jahre nach der Erstpublikation in der F.A.Z., die 2009 erfolgte (und die man auch online noch lesen kann). Das war das bislang letzte Buch des „alten“ Ulf K., jenes Comiczeichners , der seit seinem Debüt vor mehr als zwanzig Jahren mit selbstverlegten Geschichten und in kleinen, aber feinen Verlagen wie der Edition Panel oder der Edition 52 vor allem in der Figur des Tods eine probate Hauptfigur gefunden hatte und dafür schon 2004 auf dem Comicsalon in Erlangen als bester deutscher Zeichner geehrt worden war. Einen renommierteren Preis haben wir in diesem Land immer noch nicht.

Aber der Zeichner für erwachsene Schwarzromantiker (und manchmal auch Schwerromantiker) wurde immer mehr zum Kindercomickünstler. Das soll nicht ehrenrührig klingen, ist es ja auch nicht, denn wo könnte man sinnvollere Arbeit für den Comic leisten als bei den jüngsten Lesern? Bei Ulf K. kam hinzu, dass seine Ehe selbst zwei Kinder hervorbrachte und es durchaus lukrativ war, sich auf dem Markt mit Comics für die Kleinsten zu bewegen. Sorgten ansonsten vor allem Illustrationsaufträge für den Familienunterhalt, war mit Kindercomics besseres Geld als mit denen für Erwachsene  zu verdienen. Und Ulf K. entwickelte seine Erzählkunst im Umgang mit dem jungen Publikum zur Hochform.

Besonders zugute kam ihm dabei, dass er nie ein Mann der großen Worte war. Ein Gutteil seiner Comics sind stumm, also wortlos, manchmal finden sich zwar Sprechblasen, aber die reden nur in Symbolen. So war es auch in „Der Anfang nach dem Ende“, und so ist es gern in Serien für Kinder im Vor-Lesealter. Außerdem pflegte Ulf K. von Beginn an enge Kooperationen mit Szenaristen, die sich auf Kindergeschichten verstanden. Mit Martin Baltscheit etwa verband ihn sowohl Freundschaft wie Zusammenarbeit. Der Franzose Marc Lizano, mit dem er für die berühmten Figuren „Vater und Sohn“ von e.o.plauen neue Geschichten erdachte, ist ein weiterer Fixpunkt in der K.schen Karriere. Und nun ist auch Patrick Wirbeleit zum Szenaristen für Ulf K. geworden – einer der erfolgreichsten deutschen Kindercomicautoren, der gemeinsam mit Uwe Heidschötter die vielbändige Serie „Kiste“ gestaltet.

Das neue Projekt in Gemeinschaft mit Ulf K. trägt den Obertitel „Alan C. Wilder Ltd. – Die Protokolle des Übersinnlichen“ und ist erkennbar auf mehrere Bände angelegt. Der erste ist bei Carlsen erschienen – das späte Debüt bei dem bekannten deutschen Comicverlag für Ulf K.! – und heißt „Die Brücke der toten Hunde“. Darin finden sich fünf unterschiedlich lange Kapitel, die eine Spukgeschichte erzählen, hinter der ein ausgesprochen böses Gespenst steckt. Dem der junge Titelheld auf die üblen Schliche kommen soll.

„Junger Titelheld“, das meint etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt. Eine ideale Identifikationsfigur für Kinder also, konkret für Jungen, denn Gespenstergeschichten richtet sich eher nicht an Mädchen. Gruselig ist es durchaus, denn gleich zu Beginn erfährt man, dass Alans Vater bereits tot ist – ein ungewöhnliches Faktum in einem Comic für Kinder – der Tod war ja jahrzehntelang nicht einmal in Comics für Erwachsene verbreitet. Immerhin geht Alans Vater noch selbst als Geist um, so dass er seinem Filius bei dessen Gespensterdetektei behilflich sein kann. Interessant, dass nur der Sohn die Geisterscheinung des toten Vaters sehne kann; die noch lebende Mutter bemerkt nichts vom Nachleben ihres Mannes.

Text gibt es auch hier nicht viel, dafür ganz typische Ulf-K.-Bilder, niemand sonst beherrscht die Kunst des kantigen Physiognomieaufbaus so elegant wie dieser Zeichner (man sehe sich nur das Cover an; weiter unten auf der Website gibt es dann noch ein Lesungsvideo, das etliche Panels zeigt). Die Computerkolorierung hat Ulf K., der früher fürs Prinzip der einzelnen Zusatzfarbe berühmt war, zu einer großen Kunst entwickelt, und Patrick Wirbeleit hält die Geschichte genau auf dem richtigen Niveau, um Kinder im Alter von sechs bis zwölf zu fesseln. Manchen Eltern werden einige Seiten zu unheimlich für ihren wohlbehüteten Nachwuchs vorkommen, aber natürlich geht alles gut aus, du nach fast hundert Seiten hat man große Lust auf die im letzten Panel angekündigte Fortsetzung des jungen Alan C. Wilder. Dessen Abenteuer übrigens – der Name verrät es ja schon – in Großbritannien angesiedelt sind, und deshalb herrscht in der namenlosen Stadt, in der die Gespensterdetektei residiert, auch Linksverkehr. So viel Akkuratesse im Detail muss schon sein bei einem skrupulösen Zeichner wie Ulf K.