Comic-Blog

UnbenanntEin Leben für die Kunst
von Andreas Platthaus

Die Vorboten der Frankfurter Buchmesse sind jetzt schon auszumachen: Im Herbst wird die flämische Sprachregion Gastland sein, und auf uns kommen erfreulicherweise viele Comic-Entdeckungen aus den Niederlanden und Belgien zu. Hier ist die erste.

Auf meinem Schreibtisch branden die ersten Vorboten einer großen Welle an: flämische Comics. Im Herbst werden die Niederlande und der flämische Teil Belgiens Gastland der Frankfurter Buchmesse sein, und die üblichen Routinen aus Übersetzungsförderung und Verlagsplanung rasten hier zuverlässig an, während es im Vorjahr, im Falle Indonesiens, deutlich schwieriger war. Wie viele indonesische Comics sind damals übersetzt erschienen? Ich erinnere mich an keinen. Und viele Romane oder Sachbücher waren es auch nicht.

Das wird in diesem Jahr also ganz anders, und das zeigt sich schon am frühen Beginn der Welle. Gerade im Comicbereich darf man da einiges erwarten, denn Belgien ist ja ohnehin die Comicnation in Europa schlechthin, und nur weil die französischsprachigen Autoren bekannter sind als die flämischen (Hergé, Franquin, Morris, Peyo, um nur die allererfolgreichsten zu nennen), sollte man nicht geringschätzen, was in der nördlichen Landeshälfte alles passiert. Die Niederlande wiederum haben eine höchst aktive Comicszene, die von den Deutschen bislang erstaunlich wenig beachtet wurde. Schön, wenn sich das nun ändert.

Nehmen wir als erstes Beispiel den Band „Hubert“ von Ben Gijsemans, einem in Brüssel lebenden, 1989 geborenen Zeichner, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte. Die Übersetzung verdanken wir dem Berliner Verlag Jacoby + Stuart, der sich schon seit einigen Jahren im Bereich anspruchsvoller Comics profiliert hat und immer wieder für Überraschungen gut ist. Dieser Band ist eine sehr positive. Leider bietet der deutsche Verlag keine Leseprobe an, deshalb hier eine französische (was angesichts der Sprachstreitigkeiten zwischen Flamen und Wallonen in Belgien etwas frivol ist, aber was soll man machen?).

Gijsemans erzählt von Hubert Luyten, einem alleinstehenden Mann mittleren Alters, dessen größtes Vergnügen darin besteht, im Königlichen Museum für Schöne Künste seines Wohnorts Brüssel Frauendarstellungen aus allen Phasen der Kunstgeschichte zu betrachten und zu fotografieren, um sie dann zu Hause akribisch nachzumalen. Natürlich ist das eine Kompensation der eigenen Einsamkeit, und die Irritation bei Hubert, wenn seine kontemplativen Besuche im Museum durch andere Besucher oder Wärter gestört werden, hat auch etwas vom ertappten Liebhaber. Bisweilen fährt er auch nach Paris, ins Musée d’Orsay, wo mit Manets kalt-frivolem Akt der „Olympia“ ein besonderes Lieblingsbild hängt.

Es passiert so gut wie nichts auf den 86 Seiten von „Hubert“, und doch ändert sich für die Titelfigur die Welt. Denn durch zwei nicht ganz zufällige Begegnungen – mit einem Anhalter in Paris und einer Nachbarin in Brüssel – wird er mit dem Eigenbrötlerischen der eigenen Existenz konfrontiert, und durchs Fenster seiner Etagenwohnung erspäht er eine junge Frau auf der anderen Seite des Innenhofes, deren Schönheit ihn an die idealisierten Figuren der Altmeister erinnert. Am Schluss wird Hubert sich der Lebenden und damit dem Leben zuwenden, auch wenn er seiner isolierten Daseinsweise treu bleibt.

Wie Gijsemans diese schlichte Geschichte präsentiert, ist die schöne Überraschung. Er hat erkennbar viel bei seinem französischen Kollegen Pascal Rabaté abgeschaut, der den bislang gelungensten Comicband über den Louvre gezeichnet hat. Und die graphische Strenge wie auch den bewusst leeren Gesichtsausdruck der meisten Figuren (Hubert etwa verzieht hinter seiner markanten tropfenförmigen Brille kaum eine Miene) dürfte bei Gijsemans Landsmann Olivier Schrauwen seinen Ursprung gehabt haben. Beide Anleihen sind aber nicht epigonal, sondern stilistisch konsequent und der eigenen Geschichte von Gijsemans angemessen.
In den nächsten Wochen werde ich weitere Übersetzungen aus dem Flämischen vorstellen, den schon der Auftakt der Titelschwemme lässt vermuten, dass das deutsche Publikum hier mitgerissen werden dürfte. Im allerbesten Sinne des Wortes.

Comic-Blog

UnbenanntHerzlichen Glückwunsch dem 95jährigen Geburtstagskind
von Andreas Platthaus

Frank King verfügte über alle Tricks: Der neue Band von „Walt and Skeezix“ zeigt die Meisterschaft seiner seit 1918 erschienenen Comicserie „Gasoline Alley“. In den Jahren 1931 und 1932, die hier dokumentiert werden, ist das besonders gut nachzuvollziehen.

Als ich vor etwas mehr als sieben Jahren dieses Blog bei faz.net begann, galt die erste Folge – wie konnte es anders sein? – der F.A.Z.-Comicserie „Strizz“ von Volker Reiche. Die ist nun leider Geschichte. Die zweite galt einem anderen Comic-Strip, der 1918 begonnenen Serie „Gasoline Alley“ von Frank King, und die gibt es immer noch (wie auch den damaligen Blog-Beitrag). Seinerzeit war ein überformatiger, prächtiger Nachdruck der farbigen Sonntagsseiten erschienen, herausgegeben von dem amerikanischen Comicwissenschaftler Jeet Heer und dem berühmten Comiczeichner Chris Ware, dem größten Verehrer von Kings „Gasoline Alley“. Beide zusammen geben beim Verlag Drawn and Quarterly auch eine wunderschön gestaltete querformatige Nachdruckreihe der Werktagsstrips heraus, die damals, Ende 2008, beim zweiten Band angekommen war. Heute sind sieben erschienen, und die Abstände zwischen den Einzelbänden werden immer größer. Dennoch lohnt sich das Warten immer.

Und wie lange habe ich darauf gewartet! Wochen brauchte das Buch aus den Vereinigten Staaten, doch im Gegensatz zum Dezember 2008, als ich dann auch noch das Paket beim Postamt abholen musste, was weitere Verzögerung bedeutete, trat ich am vergangenen Donnerstag gerade auf dem Weg ins Büro aus der Haustür, als zu denkbar unwahrscheinlich früher Zeit gerade der Paketbote davorstand. Entgegennehmen, auspacken und in der U-Bahn gleich anfangen zu lesen, war eins. Zumal der Band zum bestmöglichen Zeitpunkt kam, drei Tage vor dem 95. Geburtstag seiner Hauptperson, jenem Skeezix, der am Valentinstag 1921, also dem 14. Februar, als Baby vor der Haustür des Junggesellen Walt Wallet ausgesetzt wurde. Wallet adoptierte den neugeborenen Knaben, und von diesem Tag an zeichnete Frank King den Lebensweg von Skeezix in Echtzeit nach: Die Leser begleiteten ihn Tag für Tag beim Aufwachsen bis ins Erwachsenenalter und zur Familiengründung, dann seine Kinder, deren Kinder und so weiter bis heute, eben einen Tag nach dem 95. Geburtstag von Skeezix.

Glückwunsch also ihm, und Glückwunsch den Herren Ware und Heer zum neuen Band. Er deckt die Episoden der Jahre 1931 und 1932 ab, und da darin am 14. Februar 1931 der zehnte Geburtstag von Skeezix lag, ließ King damals den Strip vom 14. Februar 1921 mit der Auffindung des Babys noch einmal abdrucken – eine einmalige Aktion in der Comicgeschichte. Nicht, dass nicht auch andere Serie Nachdrucke alter Folgen veranstalten würden – „Calvin and Hobbes“ von Bill Watterson besteht seit mehr als zwanzig Jahren nur aus immer wiederholten Nachdrucken der von 1985 bis 1995 erschienenen Folgen, und die „Peanuts“ sind nicht mit dem Tod ihres Zeichners Charles Schulz gestorben, sondern auch da werden ständig alte Episoden wiederholt.

King aber baute die Wiederholung der zehn Jahre alten Folge in seine fortlaufende Handlung ein: Am 13. Februar 1931 ließ er Walt Wallet dem da gerade noch neunjährigen Skeezix ein Fotoalbum zeigen, in dem die ersten gemeinsamen Bilder zu sehen seien. Den Lesern wurde für den Folgetag, den Geburtstag, versprochen, dass sie diese Fotos dann auch sehen würden. Und so geschah es am Geburtstag selbst: mit den alten Bildern. Das war ein Meisterstück des augenzwinkernden Spiels von King mit Fiktion und Realität.
Wie perfekt Frank King es beherrschte, zeigt dieser Band vielfach. Nur noch ein Beispiel: Jedes Jahr findet in der Firma, in der Walt Wallet als leitender Angestellter arbeitet, ein Bankett für deren Vertreter statt. 1931 war es am 26. Februar so weit. Vor ein paar Jahren habe ich das Original der entsprechenden Folge von 1956 erworben, weil ich so bemerkenswert fand, wie King da auf einem extrem querformatigen Panel ein Panorama des Festsaals darstellte, das an den Rändern graphisch so verzerrt war, als wäre es mit einem Weitwinkelobjektiv aufgenommen. Er imitierte da ersichtlich die in den fünfziger Jahren aufgekommene Cinemascope-Breitwandtechnik des Kinos, die zur Projektion eine gekrümmte Leinwand verlangte, um die optische Illusion herzustellen. Und tatsächlich: Wenn man Kings querformatiges Bild auch derart nach vorne krümmt, stimmen die Proportionen wieder. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

Denn ich kannte damals die entsprechende Folge von 1931 nicht. Nach dem Bankett, in der Folge vom 27. Februar, zeigt Walt seiner Ehefrau Phyllis (die er ein paar Jahre nach der Adoption von Skeezix geheiratet hatte, denn ein ordentlicher amerikanischer Junge brauchte doch eine Mutter im Haus) ein Foto des gestrigen Abends. Das sieht man als letztes Panel der Folge, und auch hier ist der Schnappschuss an den Rändern in die Breite verzerrt. Allerdings soll das da noch die Unfähigkeit des Fotografen dokumentieren. Doch King zeigt hier schon, dass er die Prinzipien der fotografischen Manipulation beherrscht und zeichnerisch zu adaptieren versteht. Und als besonderen Witz hat er unter seine in jeder Episode enthaltene Signatur „King“ diesmal das Wort „Photo“ geschrieben.
Es sind solche Feinheiten, die „Gasoline Alley“ zur interessantesten Comicserie überhaupt werden lassen. Dass sie ein Gesellschaftsbild der Vereinigten Statten über viele Jahrzehnte hinweg liefert, ist ein anderer Aspekt, der sie immens bedeutend macht. In den Jahren 1931 und 1932 wird die Depressionszeit im Geschehen der Serie immer spürbarer, und Jeet Heer widmet sein gewohnt kluges Vorwort vor allem diesem neuen pessimistischeren Zug des Strips. Dabei hatte King selbst gar nicht zu leiden, denn „Gasoline Alley“ war immens erfolgreich, und der zuvor in einer Kleinstadt in Illinois lebende Zeichner hatte sich just 1931 ein riesiges Anwesen im sonnigen Florida gekauft, wohin er mit seiner Familie (Gattin Delia und der gemeinsame Sohn Robert, das Vorbild für Skeezix) umzog.
Damit verließ der Zeichner, der für seine Serie immer akribische Recherchen durchgeführt hatte, deren Schauplatz, denn die Familie Wallet lebte in einer ungenannten Kleinstadt nicht allzu weit von Chicago entfernt, wo der Comic erschien (in der „Chicago Tribune“). Fortan, das betonen Ware und Heer, wandelte sich die Erzählweise: Es wurde abenteuerlicher, mehr allgemeine Probleme hielten Einzug, und das passte eben nicht nur dazu, dass Frank King die Lebenswelt seiner Protagonisten nicht mehr unmittelbar vor Augen hatte, sondern eben auch zu der Erkenntnis, dass die Krisenjahre in den Vereinigten Staaten anhalten würden. Wieder einmal erweist sich „Gasoline Alley“ als der treueste Spiegel der amerikanischen Gesellschaft.

So wie damals die Leser mit ihrer Serie und deren Protagonisten alterten, so tue ich es dank der großen Abstände zwischen den Nachdruckbänden heute auch wieder. Aber jeder „Walt and Skeezix“-Band (wie die Buchreihe aus rechtlichen Gründen heißen muss) führt nicht nur in jüngere Jahre der Comicgeschichte zurück, sondern belegt auch in immer größere erzählerische und zeichnerische Weisheit. Mit diesem Comic möchte man gern alt werden.

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Bryan-Talbot-Kate-Charlesworth-Mary-M-Talbot-Votes-for-Women-Der-Marsch-der-SuffragettenStarke Frauen, im Comic noch kämpferischer
von Andreas Platthaus

In den Kinos ist jetzt der Spielfilm „Suffragette“ angelaufen. Er erzählt vom Kampf ums Frauenstimmrecht in England. Doch das tut der Comic „Votes for Women“ auch. Und besser, weil ehrlicher.

In der letzten Woche ist „Suffragette“ in die deutschen Kinos gekommen, eine britische Produktion mit – beim Thema dankenswerterweise – überwiegend weiblicher Starbesetzung, die aber in Amerika merkwürdig erfolglos blieb, obwohl dort doch Filme über Bürgerrechtsbewegungen aller Art in den letzten Jahren sichere Erfolgsgaranten zu sein schienen. Aber vielleicht ist die Geschlechteremanzipation ja gegenüber der Genderemanzipation schon zu sehr Nebenthema geworden. Dann aber ist die Chance versäumt worden, eine dramatische Geschichte über die Entzweiung einer Gruppe von Idealistinnen zu erzählen.

Denn der Spielfilm „Suffragette“ erzählt lieber davon, wie Einigkeit stark macht und dadurch die Frauen den Politikern kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Hölle heiß machen. Dabei war die damals auf dem Höhepunkt ihrer Wirkung stehende englische Suffragettenbewegung seit 1912 gespalten: Die Leitfigur der Kämpferinnen fürs Frauenstimmrecht, Emmiline Pankhurst, hatte ihre enge Mitstreiterin Emmeline Pethick-Lawrence samt deren Gatten aus der Women’s Social and Political Union (WSPU) geworfen, obwohl beide mehrfach für ihr Engagement im Gefängnis eingesessen hatten. Aber das Machtstreben von Emmeline Pankhurst (die noch häufiger inhaftiert war und sich oft im französischen Exil aufhalten musste) ließ keine Rivalin zu – und schon gar keinen Rivalen. Die wohlhabenden Pethick-Lawrences führten daraufhin den Kampf uns Frauenstimmrecht in eigener Initiative und vor allem mit der Förderung von Zeitschriften und sonstigen Publikationen fort. Und sie blieben der Sache auch nach dem Kriegsausbruch treu, als Emmeline Pankhurst alle emanzipatorischen Aktionen einstellen ließ, weil sie den nationalen Zusammenhalt in Gefahr sah.

Bis zum Krieg geht der Film nicht, aber der Comic „Votes for Women“ (der Schlachtruf der Suffragetten) tut es. Gerade ist er auf Deutsch bei Egmont erschienen – im Original ist er nach seiner Protagonistin benannt: „Sally Heathcote, Suffragette“, aber das mag zu unbekannt geklungen haben, wobei man sich fragt, warum es dann ein gewiss hierzulande auch nicht allzu bekannter englischer Schlachtruf werden musste. Mary M. Talbot hat gemeinsam mit Kate Charlesworth die Geschichte der politischen Bewegung recherchiert und eine Geschichte um ein schlichtes Dienstmädchen erzählt, die unversehens in den Mittelpunkt des Geschehens kommt. Genauso machte es der Film „Suffragette“ auch mit einer Wäscherin – wahrscheinlich ist es zu verführerisch, die großen Geschehnisse aus der Sicht einer besonders benachteiligten Frau zu erzählen. Der Comic macht es nur viel besser, weil er weitaus komplexer geraten ist.

Gezeichnet hat ihn ein Mann, Brian Talbot, der Mann von Mary M. Talbot. Er ist ein seit Jahren etablierter britischer Comiczeichner, der in Deutschland vor allem durch seinen Band „Die Geschichte von einer bösen Ratte“ bekannt geworden ist, die sich dem Thema Kindesmissbrauch widmet. Gemeinsam mit seiner Frau publizierte er 2012 den Comic „Dotter of Her Father’s Eye“ über die Tochter von James Joyce, der mit dem renommierten englischen Costa-Preis in der Sparte Biographien ausgezeichnet wurde.

Hier also jetzt eine fiktive Biographie jener Sally Heathcote, die alle Höhen und Tiefen der Suffragettenbewegung der Jahre 1908 bis 1915 miterlebt. Zu Beginn und am Ende sehen wir sie als greise Frau im Krankenhaus oder Altersheim, und man könnte denken, dass man es in dem Buch mit den Erinnerungen einer Sterbenden zu tun hat. Doch zu den Überraschungen zählt auch, dass sich die alte Dame am Schluss als noch quicklebendig und am Leben interessiert erweist – eine Erfolgsgeschichte geht da langsam ihrem Ende zu, aber vorbei ist sie eben noch nicht.

Vor dieser Folie ist es auch gar keine Missachtung der Berechtigung der Frauenstimmrechtsinitiative, wenn man auch ihre internen Probleme benennt. Im Gegenteil schärfen die Talbots und Charlesworth unseren Blick auf die damalige gesellschaftliche und politische Situation, ohne falsche Heroisierungen vorzunehmen. Es gibt unendlich viele Fakten in diesem Comic zu erfahren (und etliche ausführliche Kommentare im Anhang zu den 165 Seiten der eigentlichen Geschichte vertiefen das noch). Dass von Bryan Talbot keine besonders innovative Graphik (Leseprobe hier) zu erwarten ist, war klar, aber sein sachlicher Stil passt perfekt zur historiographisch-unaufgeregten Haltung, die sich nicht dem Schwung der durchaus revolutionären und auch gewalttätigen Bewegung ergibt, sondern kühl die Ereignisse schildert. Mit dieser Lektüre investiert man einige Stunden in einen echten Schatz: historisches Wissen.

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UnbenanntNeues Jahr, neues Leseglück
von Andreas Platthaus

Sofort loslesen: Hamed Eshrat zeigt mit seiner Lebens- und Liebesgeschichte „Venustransit“, wie gut erzählt deutsche Comics mittlerweile sein können.

Das neue Jahr fängt mit „Venustransit“ denkbar gut an. Venustransit? Das war doch 2012 das große astronomische Ereignis. Ja, genau, aber für den Comic „Venustransit“ gibt das Phänomen lediglich eine Metapher mit vielfachen Assoziationen her: Venus als Göttin der Liebe, durchkreuzte Bahnen, spannende Konstellationen.
Und das Buchdebüt des 1979 in Teheran geborenen, aber seit vielen Jahren in Berlin lebenden Hamed Eshrat bietet einiges an Spannung, unerwarteten Wendungen und Liebeswirren. Das klingt jetzt nach einem Herz-Schmerz-Comic, aber es ist ein – mutmaßlich tief autobiographisch grundierter – Bildungscomicroman, in dem über ein halbes Jahr im Leben von Ben Rama erzählt wird.

Ben ist ein junger Mann mit großen bildkünstlerischen Ambitionen, der sich in Berlin mit einem tristen IT-Bürojob durchschlägt und seine Liebe zu Julia durch seine Unzufriedenheit über die eigene Lebenslage aufs Spiel setzt. So zerbricht diese Liebe auch, und Ben rettet sich aus der resultierenden Niedergeschlagenheit in einen ehemals als gemeinsame Reise geplanten Trip nach Indien. Zurück kommt er verwandelt, findet neue Liebe, neues Glück, wird sogar einen ambitionierten Comic beginnen. Kurz: Es geht gut aus.
Aber bis es soweit ist, lässt Hamed Eshrat uns in einer Intensität und Beobachtungsgenauigkeit an Bens Nöten teilhaben, die ungewöhnlich ist. Diese Elemente hatten mich schon 2014 überzeugt, als Eshrat die damals noch unfertige Geschichte für das erste Berthold-Leibinger-Comicstipendium eingereicht hatte. Er kam damit unter die zehn Finalisten, und er fand einen Verlag (Interesse an dem Band hatten sogar mehrere).

Ins experimentierfreudige Programm von Avant, einem Haus, das mit Ulli Lust eines der wichtigsten Graphic-Novel-Debüts des letzten Jahrzehnts gestemmt hat, passt „Venustransit“ exzellent.
Denn experimentierfreudig ist Eshrat allemal. Allein die Schilderung der Indienreise ist ein Meisterwerk: Dieses umfangreiche „Zwischenspiel“ von „Venustransit“ ist nicht als klassischer Comic erzählt, sondern als Faksimile eines auf der Reise mitgeführten Skizzenbuchs, in das auch zahlreiche Dokumente wie Fahrkarten, Prospekte, Eintrittskarten etc. eingeklebt wurden. Das Prinzip des reproduzierten Reisetagebuchs hat vor nicht allzu langer Zeit (und seltsamerweise auch zum Thema Indien) Sebastian Lörscher mit „Making Friends in Bangalore“ vorgeführt – wobei das eine augenzwinkernde Schilderung weniger Wochen war, während Bens Flucht nach Asien fast einen Winter lang währt und nicht Selbstironie, sondern Selbstfindung im Mittelpunkt steht. Die elliptische Methode (Auslassen der eigentlichen Ereignisse auf der Reise, dafür Präsentation der Resultate in Form der Andenken und vor allem von Bens Skizzen) lässt uns beim Lesen weiter rätseln, in welcher Verfassung Ben wohl nach Berlin zurückkehren wird. Zugleich vollzieht man über die bisweilen rätselhaften Faksimileseiten die Irritation nach, die der Protagonist in der Fremde empfunden haben wird.

Erzählerisch agiert Hamed Eshrat also höchst subtil. Wie sieht es graphisch aus? Ansehen kann man es sich zum Beispiel hier. Dass derzeit Gott und die Welt in Deutschland schwarzweiße Bleistiftcomics zeichnet, dürfte beim Beginn der Arbeit an „Venustransit“ nicht absehbar gewesen sein. Ulli Lusts stilistisches Vorbild ist bereits beim Titelbild klar erkennbar, auch die psychologische Dichte der Beschreibung hat da eine Vorläuferin. Panelrahmen setzt Eshrad nicht, dafür gibt es Stilwechsel, um die Seelenzustände von Ben zu illustrieren. Dass die Grenzen zwischen seinen eigenen Comicversuchen und dem Comic, der von ihm erzählt, bisweilen verwischen, ist ein klug eingesetztes Verfahren.
In den 250 Seiten lernen wir aber nicht nur Ben und seine beiden Freundinnen Julia und später Imma kennen, sondern auch eine kleine Freundesgruppe, die sich in einem von dem Türken Ali betriebenen Berliner Spätkauf trifft. Über Alis Leben wird ebenso geschickt nebenbei in „Venustransit“ erzählt wie über das von Beule, Bens bestem Freund noch aus gemeinsamen Punkzeiten. Wie sich da die Sympathien verschieben (untereinander, aber auch zwischen Leser und Figuren), das gehört zum Interessantesten, was deutsche Comics zuletzt hervorgebracht haben. Wenn dieses Jahr so weiter geht, wie es anfängt, dann dürfen wir das Beste erwarten.

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UnbenanntUnaussprechliche Bilder
von Andreas Platthaus

Ein Grundpfeiler nicht nur der Comicgeschichte erscheint nach 45 Jahren zum ersten Mal auf Deutsch: „Die sechs Reisen des Lone Sloane“ von Philippe Druillet sind der ästhetische Prägestempel der siebziger Jahre

Wie recht hat doch die Verlagsankündigung: Die Geschichten um Lone Sloane erinnern an die Texte von H.P. Lovecraft, den Meister des Horrors, der in den Gehirnen seiner Leser Vorstellungen von namenlosen Schrecken zu erzeugen versteht (schon allein die Rede von „namenlosen Schrecken“ ist eine typisch lovecraftsche Formulierung). Aber der amerikanische Schriftsteller nutzte dazu eben unsere Phantasie, die er nur entzündete, während der französische Comiczeichner Philippe Druillet seine eigene ins Spiel bringt. Bringen muss, denn der Comic ist notgedrungen graphisch explizit und gibt uns Bilder vor. Nur einmal reingesehen, und es wird jedem klar sein.

Deshalb taugt der Lovecraft-Vergleich nur bedingt. Man lässt sich da zu sehr mitreißen von Druillets Texten, die genau den Duktus des großen 1937 gestorbenen Vorbilds aufnehmen: „Gebadet in infernalisches Licht, gleitet Sloane bewusstlos im teuflischen Rhythmus der monströsen Maschinen und der Anrufungen der Priester. Der Ruf seines Lebens hallt wider im Herzen des ungeheuren Nichts, in dem der Schwarze Gott schläft.“ O là là, ginge es nicht auch ein bisschen kleiner oder zumindest weniger epigonal?

Da hilft selbst der beste derzeit aktive deutsche Comicübersetzer, Uli Pröfrock, nicht. Er bleibt nahe am Original, aber Druillet war ja de facto auch schon Übersetzer von Lovecrafts Stil ins Französische, und so verstärken sich mit der abermaligen Übertragung die spezifischen Marotten noch, und aus dem epischen Ton der Saga wird unfreiwillig ein fast schon satirischer. Das aber bringt Text und Bilder in einen Konflikt, denn eines ist Druillets „Lone Sloane“ ganz gewiss nicht: komisch.

Andererseits muss man realistisch sein und fragen, ob denn überhaupt jemand diesen Comic „liest“. Seine Bilder überwältigen derart, dass man es ohnehin besser nicht tun sollte, denn die Geschichte ist ein bloßes Vehikel für gigantische Seitenarchitekturen, in denen organische, mechanische und exotische Formen eine visionäre Mischung eingehen, von der später HR Giger bei seinen berühmten Entwürfen für den Science-Fiction-Klassiker „Alien“ profitieren sollte. Druillet brachte den Comic an die Grenze zum Erzählen, sein Zyklus der ersten sechs Sloane-Geschichten ist eher Trip im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes als Abenteuerreise. Als die Episoden 1970/71 im Comicmagazin „Pilote“ erschienen, müssen sie verstörend gewirkt haben, obwohl sie da nur im Heftformat publiziert wurden, was Druillet bisweilen dazu verführte, für einzelne besonders detailreiche Seiten (als Originalzeichnungen sind sie bis zu fast einem Meter hoch) einfach eine ganze Doppelseite in Beschlag zu nehmen, die dann der Leser eben um neunzig Grad drehen musste, um sie richtig betrachten zu können.

Die deutsche Erstausgabe dagegen bietet nun ein Album im Überformat, und selbst da sind die doppelseitigen Einschübe beibehalten, obwohl nunmehr die schiere Fläche ausgereicht hätte, um ihnen gerecht zu werden. Doch längst sind Druillets Kurzgeschichten ihr eigener Mythos, und dazu gehört eben auch die Maßlosigkeit des Spiels mit dem Format, was hier dann ebne ins noch Gigantischere gesteigert wird. Zudem hat der Avant Verlag, der dieses publizistische Wagnis eingeht – denn Druillet zählt anders als in Frankreich hierzulande nicht zu den Stars –, ein faszinierendes Titelbild gewählt, dass weitaus plakativer ist als das der französischen Ausgabe von 2012, die ansonsten das Vorbild abgab: Sloanes feuerrote Augen scheinen aus den Höhlen herauszubrennen. Damit wird ein Detail sichtbar gemacht, dass in den Geschichten selbst immer mehr behauptet als gezeigt wurde.

Damit aber wird nur noch weiter verstärkt, dass Druillet uns keine Freiheit zur eigenen Vorstellung zu lassen gewillt ist. Er zeichnet uns vor, was wir zu sehen haben. Seine Weltraum-Saga um den irdischen Rebellen Sloane, dem durch dämonische Kräfte eine geradezu göttliche Kraft verliehen wird und der sich dann auf den Rückweg zur Erde begibt, verdankt viel mehr als Lovecrafts Stimmungen dem höchst konkreten Vorbild des amerikanischen Superheldenmeisters Jack Kirby, der in den sechziger Jahren immer pathetischere Posen und Dekors für seine Comicbilder entwickelte und sie 1972 in die Serie der „New Gods“ kulminieren ließ. Darin allerdings war ihm Druillet zwei Jahre voraus – er brachte Kirbys Welt bereits früher an den Punkt, zu dem deren Schöpfer noch unterwegs war. Das zeigt Druillets in der Tat epochales Stilgefühl, denn er nimmt mit „Lone Sloane“ auch Moebius und Mezières vorweg – kein Wunder, dass er dann wenig später auch zu den Gründern der Zeitschrift „Métal Hurlant“ gehörte, die in der amerikanischen Version „Heavy Metal“ zum graphischen Ausdruck der siebziger Jahre wurde.

Daran hatte auch das erste Plattencover, das Druillet schuf, seinen Anteil. 1970 gestaltete er es für die Londoner Rockgruppe Grail, und im Bonusmaterial zu „Die sechs Reisen des Lone Sloane“ ist es mit Vorder- und Rückseite abgebildet. Verwendet hatte Druillet dafür das Splashpanel der zweiten Episode von „Lone Sloane“ und die spektakulärste Seite der sechsten und somit letzten der im Album abgedruckten Geschichten. Die aber erschien in „Pilote“ erst im April 1971, also lange nach der Grail-Platte. Was den Schluss erlaubt, dass Druillet seinen ganzen assoziativen Erzählzyklus in einem Rutsch geschrieben und gezeichnet hat, nicht, wie bislang angenommen, als einzelne Abschnitte. Dadurch stellt sich die Frage der inhaltlichen Geschlossenheit neu: Als aus einem Guss gefertigte Geschichte muss man den „Sechs Reisen“ gravierendere erzählerische Mängel bescheinigen, als wenn Druillet sie jeweils nach monatelangen Pausen wieder aufgenommen hätte.

Doch gleichzeitig wird nun auch klar, wie diese überwältigende Zeichenwelt ihre graphische Geschlossenheit finden konnte. Sie ist offenbar Ergebnis eines Schaffensrausches des damals Mittzwanzigers, und das Magazin streckte den Abdruck über ein ganzes Jahr hinweg. Die Redaktion wollte ihrem Publikum damals diesen Trip nur in einer Dosierung zumuten, die nicht gleich süchtig machen würde. Geschadet es Druillets Karriere nicht. Er ist ein großer Visionär des Comics. Immer noch.

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UnbenanntAußerirdisch witzig
von Andreas Platthaus

Wer nicht regelmäßig die einzelnen Episoden von „Q-R-T“, dem Kindercomic von Ferdinand Lutz, gelesen hat, dem ist etwas entgangen. Aber nun kann man die Lektüre nachholen, und sie wird sogar noch besser

Ja, Comics in Fortsetzungen sind eine gute Sache. Und nein, ich lese sie trotzdem lieber gesammelt, also als abgeschlossenes Buch. Was damit zu tun hat, dass es schöner ist, eine in Fortsetzungen oder zumindest Einzelepisoden erzählte Geschichte komplett zu lesen. Zehn Folgen von „Calvin und Hobbes“ oder den „Peanuts“ amüsieren mich mehr als nur eine, auch wenn ich weiß, dass sie als einzelne Strips konzipiert worden sind. Aber auch die amerikanischen Heftserien sind ja erfolgreicher als Sammelbände denn in Einzelausgaben. Das ist dasselbe Phänomen wie der Triumph von Fernsehserien, die heute fast alle Liebhaber als Download oder DVD hintereinander wegschauen.

Fortsetzungscomics gibt es auch in „Dein Spiegel“, dem Jugendmagazin des Nachrichtenmagazins. Als es 2009 erstmals erschien, war sofort „Ferdinand“ dabei, der Comic von Ralf Ruthe und Flix über einen Reporterhund. Den habe ich aber auch erst gelesen, als er bei Carlsen als Buchreihe herauskam. 2011 kam in „Dein Spiegel“ eine neue Serie hinzu: „Q-R-T“, gezeichnet von dem 1987 geborenen Ferdinand Lutz, der in Köln arbeitet. Und die ist nur endlich auch als Buch erschienen, bei Reprodukt im kaum genug zu preisenden Kindercomicprogramm dieses Verlags: nicht komplett natürlich (dafür gibt es schon zu viele Episoden), aber als 130-Seiten-Band, der inhaltlich einen ganz anderen Sog entfaltet als die Einzelgeschichten im Magazin.

Hier sieht man nämlich, wie geschickt Lutz seinen Leitfaden spinnt, der alle Episoden verbindet. Nicht, dass nicht jede für sich lustig wäre (o.k., einige sind sehr lustig – zum Beispiel „Kurt ist deutlich zu laut“ –, andere weniger – wie die direkt darauf folgende sehr klischeebehaftete „Eine teure Vase zerbricht“), aber wie schön bestimmte Marotten wiederaufgenommen werden, wie sich Figurenkonstellationen fortsetzen, ja selbst, dass ein innerer Zusammenhang, der über die Handelnden hinausgeht, besteht – das alles merkt man bei Komplettlektüre besser. Und da Lutz über sie seltene Fähigkeit verfügt, kindgerecht zu erzählen (einfach, aber nicht naiv), liest man das Ganze aals Erwachsener auch sehr schnell.

Es sieht übrigens auch sehr gut aus (Leseprobe hier): Ferdinand Lutz hat als zentrale Figur mit seinem Außerirdischen Q-R-T (was manche Erdlinge als „Kurt“ missverstehen) eine wunderbare Kinderfigur und durch seinen Begleiter, den Formwandler Flummi, eine sichere Bank für visuelle Gags. Die Seitenarchitektur ist unaufgeregt, jedoch nie eintönig, denn bisweilen lässt Lutz seine Episoden auch mal mit zwei seitengroßen Panels enden. Oder er signalisiert den Gemütszustand von Q-R-T durch zwei Bilder, die in immer tieferes Rot getaucht sind, während der kleine Außerirdische immer kleiner wird.

Selbstverständlich erinnert das Personal ein wenig an „Calvin und Hobbes“: kleiner, durchaus altkluger Junge und dessen treuer Freund, der für niemanden außer ihm als solcher erkennbar ist. Auch das naseweise Mädchen aus der Nachbarschaft gibt es, aber Lara aus „Q-R-T“ ist weitaus vielschichtiger als Susie Derkins. Im Laufe des Buchs deckt sie die Identität des scheinbaren Nachbarsjungen auf, und just, als das Geheimnis ganz gelüftet ist, endet auch dieser Sammelband, so dass man doch versucht ist, wieder mal „Dein Spiegel“ zu lesen, denn jetzt will man wissen, wie es weitergegangen ist.

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ottitschStrahlemann, schwarzhumorig
von Andreas Platthaus

Als junger Cartoonist hat man’s nicht leicht, denn an den Stars kommt man nicht vorbei, und die Publikationsforen sind unbefriedigend. Umso schöner, wenn ein schönes Buch herauskommt wie Oliver Ottitschs „Einfach ausrasten“

Bis zum 24-Stunden-Cartoonfestival, das vom Duo Hauck & Bauer im vergangenen August in Berlin organisiert wurde und bei dem ich ein Sechstel moderieren durfte, kannte ich Oliver Ottitsch nicht. Den Zeichner zwar schon, durch seine Bilder, die in etlichen Zeitschriften zu finden waren und sind, aber nicht diesen freundlichen Österreicher – was für ein akustischer Genuss: Oliver Ottitsch aus Österreich; ich hatte diesen Wohlklang prompt verdreht – mit den blitzenden Augen, der so gar nichts vom schwarzen Humor seiner Cartoons hat.

Wie kommt also der reizende, 1983 geborene Grazer zu so boshaften Bildern wie dem Wechselspiel im Trainingscamp von Selbstmordattentätern („Jetzt du“, ruft der abgerissene Kopf dem noch heilen Kollegen zu) oder dem durch einen abgefallenen (und ich drücke mich hier harmlos aus) Körper des Gekreuzigten bebilderten Umsetzung der Volksweisheit „Nichts hält ewig“? Die finden sich in einem ausgesprochen schön gestalteten Band mit dem Titel „Endlich ausrasten“, den der mir zuvor unbekannte Linzer Verlag Scherz & Schund produziert hat – nach Kein und Aber jetzt mein Lieblingsverlagsname. Fast hundert Cartoons werden da gesammelt, eine Dramaturgie ist zwar nicht erkennbar, aber das Bestreben nach schöner Präsentation, was soweit geht, das es in der Mitte sogar eine Ausklappseite gibt, die den durch die plötzliche Panoramawirkung geschaffenen Überraschungseffekt zur Grundlage des Gags macht. Das muss sich ein Verlag erstmal leisten wollen.

Mit Ottitsch hat Scherz & Schund aber auch eines der wenigen echten Talente gewonnen, die der Cartoonsektor in Deutschland zu bieten hat. Nicht, dass der Markt daniederläge – die Erfolge von Joscha Sauer oder Ralf Ruthe, der mittlerweile legendäre Ruf von Rattelschneck oder beck (bei jeweils leider geringerem Erfolg) und das neue Vertrauen des „Spiegels“ in die Form des Cartoons, die jüngst zu einem festen Platz im Blatt für die Zeichnerin Kitty Hawk geführt hat, stimmen verheißungsvoll, doch in der Flut von Netzforen hat man zwar zahllose Publikations-, aber wenige Profilierungsmöglichkeiten. Daran scheitern manche begabte Zeichner und landen lieber in der Werbung oder arbeiten an umfangreichen Comicvorhaben, denn wenn man sich schon ausbeutet, dann wenigstens für etwas, an dem das eigene Herz wirklich hängt. Da kommt ein so schönes Buch wie das von Ottitsch gerade recht, um zu signalisieren, dass hier jemand kommt, mit dem man als Cartoonist rechnen sollte (Leseprobe hier).

Die Erbschaft, die Ottitsch antritt, ist unschwer zu erkennen: natürlich Rattelschneck betreffs der Drastik des Humors, aber auch Til Mette, OL oder Stefan Rürup scheinen Pate gestanden zu haben. Das Themenspektrum ist breit, und nicht zuletzt die Genreparodien oder noch besser gesagt: Genreverhohnepiepelungen sind äußerst amüsant. Etwa er Superheld Captain Paradoxon, der einem – auch extrem witzig gezeichneten – Superschurken auf dessen Todesdrohung antwortet: „Nur über meine Leiche!“ Oder der Hinkelsteinlieferant Obelix auf dem Weg zur Steinigung. Oder am allerschönsten: Unlucky Luke, der Mann, der sich schneller erschießt als sein Schatten. Auf diesen Bildwitz sollte die ganze Zunft neidisch sein.

Natürlich gibt es auch einiges Bemühtes, für ein Best-of ist Ottitsch denn doch noch nicht lange genug im Geschäft. Bisweilen verlässt er sich zu sehr auf den Wortwitz und vernachlässigt die Zeichnung. Für einen Einfall wie die Verballhornung von Pontius Pilatus zu Pontius Pilates aber braucht man das Bild, und gerade dann ist der im besten Sinne aufs Notwendige reduzierte Strich von Ottitsch perfekt. Der Schriftsteller, der auf einem Blatt unter seinen Vorlesetisch greift und dazu mit Blick aufs Publikum denkt: „Wenn das Pathos nicht wirkt, habe ich immer noch das Tränengas!“, könnte auch einfach „Endlich ausrasten“ einsetzen. Tränen sind da garantiert, und es sind keine aus Traurigkeit.

So schön war der 11.11.!

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Die Überlebenden der glorreichen Sondermann-Gala vom 11.11.15 im übersichtlichen Schaubild. V.l.n.r.: Oliver Maria Schmit (Moderation), Horst Evers (Stargast), Leo Riegel (Förderpreis), Hans Zippert (Witze), Gabi Roth-Pfarr, Andreas Platthaus (Laudationes), Michael Sowa (Hauptpreis), Jens Friebe (Musik) und Leo Fischer (Geschrei). Wir danken allen An- und Abwesenden! Foto: Tom Hintner

Comic-Blog

kruemelWeltraum-Tour-de-farce
von Andreas Platthaus

Die Religion wird er nicht los: Craig Thompson bringt einen neuen vielhundertseitigen Comic heraus, diesmal für Kinder. So viel Spaß die Bilder auch machen mögen, der metaphysische Gehalt ist bedenklich

Craig Thompson ist ein Weltstar des Comics, seit er 2003 seine autobiographische Geschichte „Blankets“ veröffentlichte. Das war ein auf vielen hundert Seiten ausgebreitetes Exerzitium in Einfallsreichtum: Den originellen Bildfindungen und organischen Verschmelzungen von Bildern sah man einen sprühenden Geist an, der die eigene gegen den Widerstand der christlich-fundamentalistischen Eltern gewonnene Freiheit – davon nämlich wird erzählt – zu nutzen versteht. Selten haben Form und Inhalt eines Comics so zu Übereinstimmung gefunden wie im Falle von „Blankets“.

Dann kamen acht Jahre Pause mit allerdings einer Unterbrechung: einem gezeichneten Tagebuch, das Thompson auf einer Reise durch Nordafrika und Europa geführt hatte. Es hätte nach der Vorstellung des Zeichners beim französischen Verlag L’Association erschienen sollen, dessen Bücher er bewunderte, doch das Verlegerkollektiv lehnte die Publikation als zu epigonal ab. Mir schien das damals einerseits konsequent, denn das, was Thompson in seinem „Tagebuch einer Reise“ machte, hatten tatsächlich die Association-Autoren längst vorgemacht, andererseits aber auch arrogant, denn immerhin gaben sie dem Shooting-Star des amerikanischen Independent-Comics einen Korb. Doch die versierten Franzosen erkannten, was ich, geblendet durch „Blankets“, noch übersehen hatte: Thompsons versöhnlerisches Erzählpathos, das sich im Tagebuch schon zu einer Masche entwickelte, die dann 2011 im weltweit publizierten „Habibi“ (auf Deutsch bekam Reprodukt den Zuschlag) seine traurige Fortsetzung fand.

Dieser gegenüber „Blankets“ noch voluminösere Band erzählte eine phantastische Abenteuergeschichte aus dem muslimischen Kulturkreis, die vom unbedingten Willen getragen war, den Lesern die Schönheit und Menschlichkeit dieser Kultur deutlich zu machen. Die Bilder waren aufwendig und prachtvoll, der Inhalt aber klischeesüchtig und banal. Thompson schien sich verrannt zu haben, zumal eben das, was er nach eigener Darstellung so mühsam seinem Elternhaus abgetrotzt hatte – das von religiösen Verboten unabhängige Denken – hier zugunsten einer verständnisseligen Darstellung des Islams geopfert wurde. Plötzlich erkannte man in Thompsons Comics just jene intellektuellen Muster wieder, gegen die er mit „Blankets“ doch angetreten war.

Nun ist etwas auf den ersten Blick ganz anderes von ihm erschienen, wieder bei Reprodukt: ein Kindercomic mit dem schönen Titel „Weltraumkrümel“ (im gleichzeitig erschienenen amerikanischen Original „Space Dumplins“). Es ist die Geschichte eines kleinen Mädchens, die mit ihren Eltern in einer Art Wohnrakete am Rande der besiedelten Galaxis lebt; der Vater verrichtet eine Art Recycling-Dienst (anders gesagt: er ist Müllmann), die Mutter ist als Schneiderin in einer großen heruntergekommenen Textilfabrik tätig. Man könnte sagen: eine White-Trash-Familie wie aus dem Bilderbuch oder das in die Zukunft fortgeschriebene Prinzip einer Dritte-Welt-Gesellschaft mit all den Exzessen an Ausbeutung und Wohlstandsunterschieden, wie wir sie kennen.

Das ist interessant, und zudem nimmt Thompson für seine Figuren den ungebärdigen Funny-Stil seines Debütcomics „Good-bye, Chunkie Rice“ von 1999 wieder auf. Vor allem die sidekicks der kleinen Violet, ein etwa gleichalter Junge in Hühnchengestalt und der freche Schrottplatz-Gehilfe Zacchäus, sind wie aus dem Frühwerk übernommen. Dadurch bekommt „Weltraumkrümel“ den Anschein einer Verjüngungskur – nicht nur betreffs des Zielpublikums, sondern auch seiner Graphik wegen. Und erstmals erscheint auch ein Craig-Thompson-Comic in Farbe, was sich allerdings der Mitwirkung des erfahrenen Koloristen David Stewart verdankt, der mit geradezu psychedelischer Palette an die Arbeit gegangen ist, um der rasanten Handlung des Bandes zu entsprechen. Ansehen kann man sich das hier.

Die Handlung auch nur anzudeuten würde angesichts des Umfangs von mehr als dreihundert Seiten voller Action und Verwicklungen vergebliche Liebesmühe bedeuten. Nur so viel: Violet muss sich mit ihren beiden Gefährten auf die Suche nach dem verschollenen Vater machen; ein bisschen lassen da motivisch die „Kinder des Kapitän Grant“ von Jules Verne grüßen, aber was daraus wird, ist zwar ein ähnliches Verwirrspiel, doch zugleich ein gigantischer Spaß. Was nicht zuletzt an der Sorgfalt liegt, mit der Thompson seine Weltraumwelt ausgestaltet hat. Die überbordende Detailfülle seiner oft wieder ineinander greifenden oder komplex verschachtelten Panels ist stets motiviert, und es macht einen Heidenspaß, sich von den Eigenschaften seiner phantastischen Weltraumfahrzeuge oder -siedlungen immer wieder neu überraschen zu lassen, obwohl die dann scheinbar spontan hervorgezauberten technischen Einrichtungen schon Dutzende von Seiten zuvor graphisch angedeutet wurden. Hier ist ein extrem kluger Zeichner am Werk, der in seiner Phantasiewelt stets die Kontrolle behält.

Was aber auch auffällt, ist eine Fülle dezidierter biblischer Anspielungen, die das Geschehen durchdringen und wie im Religionsunterricht immer neue Erklärungsmuster bieten. Offenbar kann sich Craig Thompson nicht von seinen Kindheitserfahrungen im amerikanischen bible belt lösen, und mittlerweile regt sich bei mir Mitleid für diese gebeutelte Seele, die zwanghaft das, was ihr damals eingetrichtert wurde, wieder hervorkramt, um daraus ihre Geschichten zu basteln. Dabei bietet Thompsons visuelle Vorstellungskraft ein Feuerwerk an optischen Gags bis zum Höhepunkt eines in der Müllstraße (tolles Wortspiel, das der Übersetzer Matthias Wieland da gefunden hat) herumwirbelnden Barbarella-Kalenders, dem man ablesen kann, wo der Amerikaner seine Inspiration für diese Weltraum-Tour-de-farce gefunden hat. Als großes Entdeckungsspiel taugt „Weltraumkrümel“ allemal, sobald man aber anfängt, hinter die Kulissen der Story zu blicken, sollte man sich lieber wieder abwenden. Da wird gepredigt, wo wir lieber weiter lachen wollen.

Veranstaltungshinweis

PlakatZum fünften Mal in Frankfurt:

Die große SONDERMANN-Gala 2015
mit Pausen und Trompeten
und den Stargästen Horst Evers und Jens Friebe

Tatata-taa: Der „Sondermann 2015“, der Oscar der Komischen Kunst, geht an den Berliner Maler, Zeichner und Wanderprediger Michael Sowa!

Der Preisträger begeistert seit Jahrzehnten seine weltweit und beständig wachsende Fangemeinde mit grandiosen Bildern aus einer geheimnisvollen Region zwischen Traum und subtiler Komik. Wie kein Zweiter beherrscht er, wie Robert Gernhardt es einmal nannte, das „traditionsreiche Spiel aller sogenannten realistischen Malerei: das Spiel der Täuschung, Verführung und Bezauberung“.

Am 11.11. jährt sich der 57. Geburtstag des 2004 verstorbenen Frankfurter Zeichners Bernd Pfarr, nach dessen Figur „Sondermann“ der seit 2004 verliehene Preis benannt ist. Nun ist er zum fünften Mal in Folge mit der Preissumme von 5000 Euro dotiert. Preisträger des „Bernd Pfarr Sondermanns für komische Kunst“, wie der Preis mit vollem Namen heißt, waren u. a. Rudi Hurzlmeier, Christoph Niemann, Greser & Lenz, Rattelschneck, Eugen Egner und Ernst Kahl.

Vorlese-Stargast des Galaabends mit Scheck und Statue ist der Berliner Bestsellerautor Horst Evers, dessen zahlreiche Bestsellerbuchumschläge (u. a. „Für Eile fehlt mir die Zeit“) durchweg mit Bernd-Pfarr-Motiven gestaltet sind. Für die musikalische Umrahmung sorgt der Berliner Sänger, Liedermacher und Autor Jens Friebe („Nackte Angst, zieh dich an, wir gehen aus“). Außerdem treten auf: Der Preisträger Michael Sowa, Moderator Oliver Maria Schmitt, Andreas Platthaus, Leo Fischer, Leo Riegel, Hans Zippert u. a.

Die Veranstaltung ist lactosefrei, kann aber Spuren von Erdnüssen enthalten!

11. 11. Mousonturm, Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt
VVK € 17,40 + Gebühr / AK € 19,- – Tickets hier!