Stammtisch-Nachlese vom 14.02.18

Der Sondermannverein e.V. freut sich über den regen Besuch des ersten Stammtischs in diesem Jahr. Etwa 20 illustre Gäste, u.a. Bernd Eilert, Pit Knorr, Andreas Platthaus, Hans Zippert, Achim Frenz und Bernd Gieseking (nicht in alphabetischer Reihenfolge) fanden sich teilweise pünktlich um 20.00 Uhr in der Gaststätte „Zur Stalburg“ ein und blieben dort (mitunter altersbedingt) bis ca. 23.30 Uhr sitzen. Augen- und Ohrenzeugen berichten von einer heiteren bis gar lustigen Atmosphäre. Zur Überraschung des Besitzers konnten alle Künstler ihre gewaltige Zeche zahlen, was nur einen Schluss zulässt: Nie ging es dem Frankfurter Kulturbetrieb besser – Sondermann e.V. sei Dank!

Andreas Platthaus bloggt und bloggt

Kein Anlass für Katzenjammer, aber ein Anlass für die „Katzenjammer Kids“

In der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Heide findet derzeit eine Ausstellung statt, die sich Rudolph Dirks widmet, dem hierher stammenden amerikanischen Comicpionier. Und dazu gibt es einen hinreißend schönen Katalog.

Ganz hoch oben in der Republik läuft seit einer Woche eine Comic-Ausstellung. Nein, nicht in Oldenburg, das sind es gleich drei, und außerdem geht es noch viel nördlicher. Heide zum Beispiel, eine kleine Stadt in Schleswig-Holstein, genauer gesagt im Dithmarschen, von der Elbemündung ein Stück weiter an der Nordseeküste herauf. Aus der Mitte der Republik nicht leicht zu erreichen. Und deshalb werde ich wohl auch in der Restlaufzeit von noch sieben Wochen (bis zum 22. April) nicht dort hingelangen. Ein Jammer. Aber kein Grund für Katzenjammer. Pardon, aber diese bemühte Überleitung musste sein, denn die Ausstellung widmet sich Rudolph Dirks, einem Kind der Stadt Heide, geboren 1877, aber wer weiß das schon. Was viele wissen: Dirks hat die „Katzenjammer Kids“ gezeichnet, einen Comic-Strip, der seit 1897 in amerikanische Zeitungen gedruckt wird, bis heute. Man merkt schon: Lange geblieben sein kann Dirks in Heide nicht. Aber nun holt sich die Stadt ihren großen, ja man kann sagen: größten Sohn zurück.

Nicht nur mit der Ausstellung, sondern auch mit dem dazu erarbeiteten Katalog. Und der ist der Grund, dass von Katzenjammer für die Leute, die es nicht bis zum 22. April nach Heide schaffen werden, keine Rede sein kann. Denn der Katalog ist länger zu haben, weil er im Verlagsprogramm von Christoph A. Bachmann erschienen ist, dem eifrigsten und qualitativ auch besten deutschen Verlag für Comicforschung. Da passt der großformatige, farbig gedruckte du 136 Seiten starke Katalog glänzend hin, denn es wird profund darin geschrieben. Mit Alexander Braun hat man den größten Expe4rten für alte Zeitungscomics gewonnen (übrigens auch als Leihgeber etlicher Originale und gedruckten Seiten, die bis ins späte neunzehnte Jahrhundert zurückgehen. Dazu kommen Texte des jungen Kurators der Ausstellung, Benedikt Brebeck, deren Qualität zu den schönsten Hoffnungen Anlass gibt. Und auch die übrigen Beiträge, die sich nicht zuletzt auch der Lokalgeschichte der Auswanderung widmen, sind alle lesenswert. Der Band ist einfach sorgfältig gemacht.

© Ch. A. Bachmann Verlag

Alles, was die Ausstellung zeigt, hat auch den Weg ins Buch gefunden. Wobei selbst dessen Bilderbuchformat nicht der Anmutung alter Zeitungsseiten ger4echt wird, und die Dirksschen Originale (ganz alte tauchen seltsamerweise nie auf, nicht auf Auktionen, anderen Ausstellungen oder in Sammlungen die meisten bekannten stammen aus den dreißiger und vierziger Jahren) sind auch sehr groß. Also dürfte der Weg auf die Museumsinsel Lüttenheid in Heide, wo die Schau zu sehen ist, allemal lohnen. Schade, dass die ursprüngliche Planung, das Ganze im Hannoveraner Busch-Museum für Karikatur und Zeichenkunst zu zeigen, nicht einmal mehr zu einem späteren Gastspiel dort führen wird.

Die Ausstellung summiert mehr als anderthalb Jahrzehnte Forschung, die in Gang kam, als Dirks Geburtsort identifiziert wurde (zuvor war er fälschlich als „Heinde“ überliefert worden) und Abgesandte der Stadt den damals noch lebenden Sohn John Dirks in Connecticut besuchten, der später den noch vorhandenen Familiennachlass nach Schleswig-Holstein – so erklärt sich die materielle Grundlage der Ausstellung. John Dirks war seinem Vater in den fünfziger Jahren als Zeichner der „Katzenjammer Kids“ gefolgt (die aus rechtlichen Gründen damals „The Captain and the Kids“ hießen, denn gleichzeitig gab es eine Serie unter dem alten Namen, die von jenem Pressekonzern vertrieben wurde, bei dem Dirks 1897 angefangen und den er 1912 verlassen hatte. Die Figuren durfte er mitnehmen, den Namen der Serie nicht. So gab es den eimaligen Fall, dass zwei beinahe gleiche Comic-Strips für Jahrzehnte parallel liefen. Doch „The Captain and the Kids“ hatte den Vorzug, den Erfinder und dann dessen Sohn als Urheber zu haben.

Ausstellung und Katalog dokumentieren aber auch die andere Serie, die „Katzenjammer Kids“ nach 1912, die lange Jahre in den Händen von Harold H. Knerr lagen, der pikanterweise zuvor schon einige Plagiate von Dirks‘ Stil angefertigt hatte. Die Zeitungen kämpften im frühen zwanzigsten Jahrhundert untereinander mit harten Bandagen, und die Rechtslage war alles andere als klar. Der Streit um die Rechte an den „Katzenjammer Kids“ endete in einem Musterprozess, der dann einiges festschrieb, was seitdem in den Vereinigten Staaten urheberrechtlich gilt.

Noch interessanter als diese Aspekte ist allerdings der Blick, den das Dirks-Forschungsprojekt auf einen weiteren Mann dieses Namens wirft: auf Gustav Dirks, den um vier Jahren jüngeren Bruder von Rudolph, der in Amerika auch als Comiczeichner reüssierte und drauf und dran war, den längst etablierten Älteren in der Gunst des Publikums zu überholen – mit seinem Comic-Strip „Bugville“ –, als er sich 1902 im Alter von nur 21 Jahren umbrachte. Warum, ist unklar, auch die jüngste Forschung hat da keine letzte Erklärung parat: Gus Dirks (wie er sich in Amerika nannte) war aller Wahrscheinlichkeit nach depressiv, und es gibt auch Gerüchte, die von Liebeskummer über eine Frau sprechen, die sich für den Bruder entschieden habe. Aber das klingt eine Idee zu spektakulär, als dass ich es glauben mag.

Von Gus Dirks hat sich allein seiner kurzen Schaffenszeit wegen nur wenig erhalten, aber hier wurden für Heide Entdeckungen gemacht. Etwa, dass er den Bruder bei einigen Folgen der jeweils sonntags erscheinenden „Katzenjammer Kids“ im Jahr 1898 als Zeichner vertrat – der Katalog mutmaßt, Rudolph habe sich als Freiwilliger im Spanisch-amerikanischen Krieg gemeldet, während das für den noch minderjährigen Gus nicht in Frage kam. Außerdem hat Alexander Braun einen Cartoon des legendären Zeichners Frederick Burr Opper aus dem Jahr 1899 gefunden, der auf einer Idee von Gus Dirks beruht (was unter Oppers Signatur akribisch vermerkt wurde).  Der junge Mann war also schon mitten drin im Comic-Geschäft und arbeitete mit den großen Pionieren zusammen.

Wem das jetzt alles viel zu historiographisch ist, der erfreue ich einfach an den grandiosen Zeichnungen, die – dafür sind die „Katzenjammer Kids“ ja berühmt – von Wilhelm Buschs Vorbild ausgehend die Prinzipien des Comics beinahe im Alleingang entwickeln. Oder besser gesagt: im Passgang, denn offenbar haben sich die Dirks-Brüder gegenseitig in ihren Ideen befeuert. Um diese These zu stützen, bräuchte man indes noch mehr Material von Gus. Aber viel inspirierender als das Heider Projekt kann eine Comic-Ausstellung kaum sein. Der Katalog kostet den Spottpreis von 19,99 Euro und kann hier bestellt werden (eine Leseprobe gibt es nicht, aber hier findet man noch Näheres zur Ausstellung). Natürlich gibt es den Katalog auch im Buchhandel, aber warum soll man dem engagierten Ein-Mann-Verlag nicht das ganze Geld gönnen?

vom 01.03.2018


Fabelhafte Fake News

Staunen Sie, den von diesem Comic-Star haben Sie noch nie gehört. Zu Recht, denn Charlie Chan Hock Chye aus Singapur ist eine Erfindung seines Landsmannes Sonny Liew. Und darum nur umso brillanter.

Was wissen Sie über Singapur? Klar: Stadtstaat, größte Sauberkeit (wegen rigider Strafen), Wirtschaftsmetropole, brutale Eroberung durch die Japaner im Zweiten Weltkrieg, fabelhafte Fluglinie. So viel wissen wir alle. Aber über die politischen Zustände dort, die jüngere Geschichte, die knapp zweijährige Zugehörigkeit zu Malaysia? Oder gar über Comics aus Singapur?

Über all das und noch viel mehr erfährt man in „The Art of Charlie Chan Hock Chye“, einer – man kann es nicht anders sagen – grandiosen Comicbiographie eines 1938 geborenen Zeichners aus Singapur. Erschienen ist der mehr als dreihundert Seiten starke Band schon vor drei Jahren, aber bis mir ein Freund aus Djakarta davon erzählte, war es schon 2017. Und nachdem der Band eingetroffen war, schob ich die Lektüre monatelang vor mir her. Bis jetzt. Und nach dieser Lektüre sieht meine Comicwelt anders aus.

© Epigram Books

Sie ist größer geworden, denn nun kenne ich einen fulminanten Zeichner aus Singapur. Und zwar nicht Charlie Chan Hock Chye, denn den gibt es gar nicht wirklich. Ausgedacht hat sich diesen Künstler der 1974 in Malaysia geborene, aber seit langem in Singapur lebende und zeichnende Sonny Liew. Die ganze Biographie Chans ist also fiktiv, die Begleitumstände seines Lebens aber sind es nicht. Es umfasst die ganze Nachkriegsgeschichte Singapurs, also die Befreiung von japanischer Besetzung, den Widerstand gegen die wiederhergestellte englische Herrschaft, die Unabhängigkeit 1959, den erwähnten kurzfristigen Zusammenschluss mit Malaysia und das Aufblühen als Wirtschaftsmacht danach. Aber betrachtet wird das alles aus der Perspektive des Werks von Charlie Chan Hock Chye. Denn Liew dichtet seinem Protagonisten ein politisch engagiertes Schaffen an. Und LIew hat diese Geschichten dann auch eigens gezeichnet.

Und hier wird es spektakulär. Der heute Dreiundvierzigjährige simuliert die Zeichenstile der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als wäre er bei den großen Meistern in die Schule gegangen. Sein Charlie Chan ist es nämlich zumindest als Leser: Der junge Mann, so erzählt die ihm gewidmete Geschichte, hat Comics von Osamu Tezuka gelesen und deshalb Singapur-Comics im Manga-Stil gezeichnet. Aber auch amerikanische Pulp-Comics, Zeitungsstrips und Disney-Comics, und jeweils nahm er die entsprechenden Gestaltungselemente ins eigene Zeichen auf. Oder Superhelden-Comics. Oder Gekiga (also Manga mit erwachsenen Themen).

In „The Art of Charlie Chan Hock Chye“ finden sich auch Seiten, die von Walt Kelly gezeichnet sein könnten, von Will Eisner, von Harvey Kurtzman, Frank Miller oder sogar Carl Barks. So gut soll dieser Chan gewesen sein. Und so gut ist tatsächlich dieser Sonny Liew (auf der Homepage zum Comic kann man sich das ansehen). Das unterscheidet ihn etwa von dem kanadischen Zeichner Seth, der in „It‘s a Good Life if You Don’t Weaken“ ebenfalls eine imaginäre Zeichnerexistenz samt deren angeblichen Werken geschaffen hatte. Aber da handelte es sich um einen einzigen Stil. Liews Chan dagegen wandelt den seinen im Laufe seiner sechzigjährigen Karriere immer wieder. Was für ein Geniestreich! Was für ein Geniestrich!

In den Vereinigten Staaten, dem Land, wo die meisten der Vorbilder des imaginäre Meisterzeichners stammen, hat man das natürlich rasch gemerkt. „The Art of Charlie Chan Hock Chye“ erschien dort bei Pantheon, also der besten Verlagsadresse für anspruchsvolle Comics in Amerika („Maus“, „Jimmy Corrigan“, „Asterios Polyp“ und viele mehr). Letztes Jahre haben es dann auch die Franzosen gemerkt; dort griff mit Urban Comics ein allerdings noch nicht sehr bekanntes Haus zu. Aber immerhin wurde der Band dort gedruckt, während sich noch kein deutscher Verlag darum gekümmert hat. Um einen der besten Comics der letzten zwanzig Jahre.

Dieses Prädikat hat der Band verdient, weil er einerseits so unglaublich gut gezeichnet ist und weil er andererseits ein Erzählgeschick besitzt, das seinesgleichen sucht. Denn über die angeblich aus früheren Jahrzehnten stammenden Chan-Comics werden in dieser fiktiven Biographie Gespräche geführt, Materialien zusammengetragen und vor allem wiederum Geschichten erzählt, die Politik und Gesellschaft im Singapur seit 1945 anschaulich machen. Fußnoten liefern weitere Informationen zu den realen Hintergründen, und Sonny Liew wiederum tritt selbst als handelnde und kommentierende Figur auf, so dass der Schleier der Illusion immer leicht angehoben bleibt. So gewitzt du vieldeutig ist im Comic wohl noch nie erzählt worden.

Und so herrlich lustvoll gefälscht wohl auch noch nicht. Das Buch quillt über vor Faksimiles von alten Comic-Heften oder Originalseiten, die Chan gezeichnet haben soll, akkurat auf alt getrimmt bis hin zu vergilbtem Papier und Resten von Klebestreifen. Ganze Serien von Probeseiten für nie verwirklichte Projekte werden vorgestellt, und aus der Absage diverser Verlage wird ein neues Comic-Kapitel, das ein Stück Pressegeschichte des Fernen Ostens erzählt. Bis zu vier Erzählebenen finden sich auf einer Seite von Liews Buch, doch deren Trennung wird immer deutlich gemacht durch die graphische Gestaltung: Dem imaginären Chan gehören dabei alle anspruchsvollen Arbeiten, dem echten Liew dagegen die cartonartigen.

Das alles mag komplizierte klingen, als es ist, auch weniger amüsant, als es ist, hermetischer, als es ist. Man braucht Zeit für dieses Buch, viel Zeit sogar, denn es gibt unglaublich viel Text, und fast alles, was erzählt wird, dürfe deutschen Lesern neue sein. Aber wie bei den besten Geschichten von Alan Moore ist der Aufwand, den die Lektüre erfordert, ein reines Vergnügen, weil man Panel für Panel und Fußnote für Fußnote immer klüger wird und auch das Buch selbst immer besser versteht, so dass man am Schluss „The Art of Charlie Chan Hock Chye“ doch fast so schnell lesen kann wie einen vertrauten westlichen Comic. Das ist die Kunst von Sonny Liew, einem Zeichner, der mit diesem Band zu den ganz Großen seiner Zunft gerechnet werden muss.

vom 23.02.2018

Daniel Sibbe: „Mein Vorbild Sondermann…“ (4)

Der 2017er Sondermann-Stipendiat Daniel Sibbe wird Vater.

MEIN VORBILD SONDERMANN… und was daraus wurde (Folge 4)

Familie und Freunde (II)

Was hat man über Hochzeiten nicht alles schon für Sachen gehört. Da erbricht sich der Bräutigam, noch meterbreit vom Vorabend, mitten in der Trauung vor des Pfarrers Füße, die sich plötzlich hintergangen fühlende Ex schreit den Standesbeamten zusammen, oder die Schwiegermutter schneewalzert ihre zwei Zentner volle Breitseite ins Büffet. Nicht so leider bei der Hochzeit meines besten Freundes. Brautpaar, Aufgebot und Gäste erschienen aufgeräumt und pünktlich in Standesamt und Kirche, niemand hatte versehentlich die Trauringe zu Hause liegenlassen, und die anschließende Feier im Gemeindehaus endete Schlag zwei mit Udo Jürgens’ „Ich war noch niemals in New York“. Ich will es meinem Freund nicht so direkt sagen, aber meiner Meinung nach ist diese Ehe jetzt schon zum Scheitern verurteilt.

Wie sehr man sich doch auf den Volksmund verlassen kann, erfuhr ich erst unlängst wieder am sprichwörtlich eigenen Leib. Als frischgebackener Vater überkam mich nach einer langen, harten Nacht ohne Schlaf das plötzliche Bedürfnis, meine Zerschlagenheit durch körperliche Arbeit abzuschütteln. Flugs hatte ich Stehleiter, Kabeltrommel und Elektroschere parat, um die auf über drei Meter hochgewucherte Hecke unseres Gartens auf Gardemaß zurechtzustutzen. Verantwortungsbewusst positionierte ich den Kinderwagen mit meinem mich neugierig betrachtenden Filius in ausreichendem Sicherheitsabstand zur Leiter. Kaum hatte ich die oberste Sprosse erklommen, das anfängliche Schwindelgefühl abgeschüttelt und den ersten schwungvollen Schnitt getätigt, passierte das Malheur. Mein Fuß verhedderte sich unglücklich in einer Schlaufe des Verlängerungskabels. Die, um mein Kind nicht in Gefahr zu bringen, noch arbeitende Heckenschere fest im Griff, versuchte ich mit Ruderbewegungen beider Arme vergeblich das Gleichgewicht zu halten und kippte in hohem Bogen kopfüber von der Leiter. Mein freier Fall wurde lediglich dadurch gebremst, dass sich das rotierende Scherenblatt im Verdeck des Kinderwagens verfing. Wieder auf wackeligen Beinen stehend, konnte ich meine im Schlafanzug herbeieilende, vor Sorge um ihre Liebsten hysterisch kreischende Freundin, welcher Teufel mich geritten habe, um fünf Uhr morgens ihr Baby umzubringen, nach kurzer Feststellung der körperlichen Unversehrtheit von Sohn und Vater mit noch schwerer Zunge direkt beruhigen. Denn wie heißt es doch so schön: Betrunkene und Kinder schützt der liebe Gott.

Bei seinen Streifzügen auf allen Vieren in die geheimnisvollsten Ecken und Winkel seines Elternhauses hat unser Sohn (neun Monate) jetzt den Friedhof der vergessenen Bücher entdeckt und zielsicher das für ihn bestimmte Buch aus dem Regal gezogen. Dem elterlicher Fürsorge geschuldeten ersten Schrecken, dass es sich dabei um „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ handelte, folgte schnell eine nüchterne Abwägung seiner Wahl. Vorteil: Das bereits angesparte Geld zur Finanzierung seines Studiums können wir nun selbst verprassen. Nachteil: David Bowie.

Andreas Platthaus über Florent Sillorays „Capa – Die Wahrheit ist das beste Bild“ (Knesebeck)

Bildergeschichte eines Bilderstreits

Ein biographischer Comic über den Fotografen Robert Capa, der anfangs nur die aus kommerziellen Aspekten geschaffene Kunstfigur eines in Paris lebenden Bildreporterpaars war.

Im Osten der Innenstadt von Leipzig, auf dem Weg durch die Straße des 18.Oktober zur Nationalbibliothek, stehen plötzlich links vor den herausgeputzten Plattenbauten einige Schautafeln auf den Rasenflächen. Sie erinnern an eine berühmte Leipzigerin, deren Namen kaum jemand kennt: Gerda Taro.

©Knesebeck

Aber einige ihre Bilder kennt man: Fotografien aus dem Spanischen Bürgerkrieg, wo die Mittzwanzigerin als mutmaßlich erste Kriegsfotografin der Welt agierte. Allerdings tragen diese Aufnahmen meist nicht ihren Namen, der bereits ein Pseudonym war (eigentlich hieß sie Gerta Pohorylle), sondern den von Robert Capa, dem zweifellos berühmtesten Fotoreporter der Welt. Mit dem Amerikaner war Gerda Taro liiert. Und auch wiederum nicht, denn zusammenleben tat sie mit dem Ungarn Endre Friedman – in Paris, wo beide seit Mitte der dreißiger Jahre lebten; Taro als Jüdin auf der Flucht vor den Nazis, Friedman als Sohn einer armen jüdischen Familie auf der Suche nach einer Karriere. Beide fotografierten, und gemeinsam dachten sie sich 1936 für die gemeinsame Arbeit die fiktive Existenz von Robert Capa aus, der fortan als Urheber der Fotos von Taro und Friedman galt. Und da sich die Bild- und Presseagenturen der damaligen Zeit nur Männer als Fotoreporter vorstellen konnten, spielte Friedman diesen ausgedachten Amerikaner. Und bleib es dann zeit seines restlichen Lebens auch.

Gerda Taro war begreiflicherweise nicht glücklich über die Perfektion, mit der ihr gemeinsamer Plan aufging. Denn dadurch musste sie ihre Urheberschaft an manchen Capa-Aufnahmen der Jahre 1936 und 1937 verleugnen. Ob es auf die Dauer gut gegangen wäre mit dem gemeinsamen Pseudonym, das aber nur einen von beiden ins Rampenlicht rückte, darüber kann man nur spekulieren: Taro starb im Einsatz als Fotografin an der spanischen Front im Juli 1937; sie wurde von einem Panzer der Republikaner überrollt, für deren Seite sie in dem Konflikt entschieden eingetreten war, Ihr Tod kam just zu dem Zeitpunkt, als sie doch noch Aufnahmen unter eigenem Namen veröffentlicht hatte, weil Friedman wieder nach Paris zurückgekehrt war und man also den Kunden gegenüber schwer behaupten konnte, Capa fotografiere noch in Spanien.

So ausführlich erzählen die Schautafeln in Leipzig die gemeinsame Zeit von Taro und Friedman nicht; hier wird an der Einmündung der kleinen Gerda-Taro-Straße in die große Straße des 18. Oktober ans ganze Leben der Fotografin erinnert, und dabei können die letzten beiden Jahre nur kurz Thema sein. Im Sommer 2016 erregte eine mutwillige Beschädigung der Schautafeln Aufsehen; über das Motiv der Tat ist nichts Sicheres bekannt. Jetzt sind sie wieder gereinigt, und man kann das abenteuerliche Leben dieser Leipzigerin kennenlernen. Es hätte einen Comic verdient.

Und im Grunde genommen gibt es den auch, zumindest teilweise, denn Gerda Taro ist auf den ersten 25 Seiten eines kürzlich erschienenen Bandes eine der beiden Hauptpersonen. Die andere aber bleibt es dann allein auf den noch folgenden sechzig Seiten, denn der Comic erzählt von Robert Capa und deshalb ist Endre Friedman die Hauptfigur. Der Knesebeck-Verlag hat den Band ausgerechnet „Capa – Die Wahrheit ist das beste Bild“ betitelt, als hätte es die anfänglicher Schwindelei nie gegeben. Im französischen Original hat der Zeichner Florent Silloray seine Bildergeschichte „Capa – L’étoile filante“ genannt.

Diese Charakterisierung als Sternschnuppe passt auf Friedman wie auf Taro und ist deshalb höchst geschickt gewählt, auch wenn alles aus der Sicht des Mannes erzählt wird. Aber der hatte ja auch den Löwenanteil an Capas Existenz, bis er im August 1954 in Indochina-Krieg auf eine Miene trat und dadurch getötet wurde. Erzählt werden die nicht einmal zwanzig Jahre von Capas Karriere weitgehend chronologisch; nur ganz am Anfang gibt es einen Rückblick auf die Anfänge und dadurch auch auf Gerda Taro. Ansonsten ist das, was Silloray hier macht, so konventionell, wie nur denkbar.

Ist es denn wenigstens dem Bildkünstler Capa adäquat? Keinesfalls. Das Gros der Bilder dieses Comics ist in Sepia gehalten (siehe die Leseprobe des Verlags), und das ist die billigste Methode, eine historische Handlung zu visualisieren. Einige wenige Male gibt es rote Einsprengsel (Titelköpfe von Zeitschriften, Entwicklerflüssigkeit in der Dunkelkammer, Capas Blut nach seiner tödlichen Verwundung), und nach zwei Dritteln der Handlung wird eine dreiseitige Sequenz eingeschoben, die im Grau klassischer Fotoabzüge gehalten ist – das sind die drei Seiten, die von Capas Dokumentation des D-Day, also der alliierten Invasion an den Stränden der Normandie im Sommer 1944, erzählen. Warum dann später noch eine Reminiszenz an die Budapester Kindheit sechs graue Einzelpanels bekommt, ist unerfindlich. Die Farbgebung gehorcht offensichtlich keinem schlüssigen Konzept.

Viele Bilder sind verständlicherweise berühmten Aufnahmen Capas nachempfunden, aber auch das gehorcht eher der Willkür als einem ästhetischen Plan. Es handelt sich beim „Capa“-Comic um einen weiteren der gängigen biographisch-historischen Bände, die ohne künstlerische Originalität oder erzählerisches Raffinement allein von der Prominenz ihrer Gegenstände leben. Anschaulich machen ist ja schön und gut, aber als alleiniger Daseinszweck für einen Comic doch zu wenig. Es sollte schon auch noch etwas durchdrungen werden.

Auf Seite 68 trifft Robert Capa mit den vorrückenden amerikanischen Truppen in Leipzig ein, der Heimatstadt seiner toten Geliebten. Dort wird er eines seiner berühmtesten Fotos aufnehmen: das des angeblich letzten Toten des Zweiten Weltkriegs (so der Titel beim späteren Abdruck) – eines jungen G.I., der von deutschen Heckenschütze erschossen wurde. Das Haus an der Jahn-Allee, wo sich dieses Ereignis abspielte, wurde erst vor wenigen Jahren durch private Initiative vor dem Verfall gerettet; nun steht es renoviert westlich der Innenstadt, in Leipzig als „Robert-Capa-Haus“ bekannt, und es gibt im dort ansässigen Café auch einen kleinen Gedenkraum für den Fotografen. Dort erfährt man nichts von Gerda Taro, dafür muss man drei Kilometer weiter durch die Stadt. Aber aus beiden Leipziger Erinnerungsstätten zusammen ergibt sich doch ein interessanteres Bild als im Comic von Florent Silloray.

HEUTE: Sondermann-Stammtisch in der Gaststätte „Zur Stalburg“!

Sehr geehrte Freunde, Gönner, Mitglieder,

lernen Sie die sonderbarste Geheimgesellschaft der Welt besser kennen – bei einem geselligen Umtrunk ohne Redezwang! Grübeln Sie mit uns über verfehlte Stipendiats- und Preispolitik, erwägen Sie ernsthaft den Beitritt zum Verein – und zahlen Sie am Schluss bitte die Rechnung. Mit zahlreichen, teilweise stark ergrauten Veteranen aus dem TITANIC-Umfeld!

Heute, am Mittwoch, den 14. Februar 2018 ab 20:00h in der Gaststätte „ZUR STALBURG“, Glauburgstraße 80, 60318 Frankfurt a.M., Telefon 069 557934

Es freut sich auf Sie

Andreas Platthaus‘ Comic-Blog erneut im Doppelpack

Farblos geht das Buch zugrunde

Eine Entdeckung im Oldenburger Horst-Janssen-Museum: Der Comics „Der Sommer ihres Lebens“ von Barbara Yelin und Thomas von Steinaecker sieht viel besser aus, als wir ihn bislang kennengerlernt haben.

Im Horst-Janssen-Museum von Oldenburg werden seit vergangenem Wochenende drei Monate lang vierzehn deutsche Comiczeichner ausgestellt: dreizehn aktuell arbeitende und mit Hans Hillmann ein leider bereits verstorbener Meister, der wohl nie auf den Gedanken gekommen wäre, sich selbst „Comiczeichner nennen“. Aber seine 1982 nach siebenjähriger Arbeit erschienene Dashiell-Hammett-Adaption „Fliegenpapier“ ist zumindest ein Meilenstein der Graphic Novel, auch wenn tatsächlich die typischen Comic-Elemente fehlen – keine Sprechblasen, dafür Text unter den Bildern, keine Seitenarchitektur, dafür jeweils ein- oder doppelseitige Illustrationen. Ich habe immer dafür plädiert, den Begriff „Graphic Novel“ zu vernachlässigen, weil doch jede ein Comic wäre, doch im Falle von „Fliegenpapier“ kann man aus den eben genannten Gründen zwar nicht von Comic sprechen, aber doch sehr wohl von „Graphic Novel“, wenn man die Übersetzung als „gezeichneter Roman“ ernst nimmt (was die Propagandisten dieses Begriffs im Regelfall nicht tun).

Genau die Hälfte der vierzehn in Oldenburg ausgestellten Künstler ist mit Arbeiten auf der Grundlage von Texten anderer Autoren vertreten: Neben Hillmanns „Fliegenpapier“ sind das noch Ulli Lusts Roman-Adaption „Flughunde“ nach Marcel Beyer, Jakob Hinrichs Hans-Fallada-Biographie „Der Trinker“, die auf einen autobiographischen Text des Schriftstellers zurückgeht, Isabel Kreitz‘ historischer Comic „Hamann“ nach einem Szenario des Publizisten Peer Meter, Simon Schwartz‘ „Packeis“ nach dem Leben eines Forschungsreisenden, das in einigen Sachbüchern ausgebreitet wurde, Reinhard Kleists „Nick Cave – Mercy on Me“, in dem zahlreiche Songteste des australischen Sängers in Bilder umgesetzt werden, und schließlich Barbara Yelins „Der Sommer ihres Lebens“, eine Geschichte, die von Yelin nach einer Idee des Schriftstellers Thomas von Steinaecker und in enger Zusammenarbeit mit diesem fertiggestellt wurde. Um diesen Band soll es hier gehen.

Warum? Er ist doch schon vor mehr als einem halben Jahr bei Reprodukt, Yelins Hausverlag, erschienen (Leseprobe), und zuvor konnte man ihn in Fortsetzungen im Internet-Kulturjournal „Hundertvierzehn“ des S.-Fischer-Verlags (Steinaeckers Hausverlag) lesen – übrigens auch jetzt noch komplett. Und so habe ich es damals auch gehalten: erst im Netz, dann als Buch. Warum haben mich jetzt rund fünfzehn Originalseiten daraus, die in Oldenburg an der Wand hängen, zu einer neuen Einschätzung dieses Comics gebracht?

Weil er mir auf „Hundertvierzehn“ und noch vermehrt dann als Buch zu düster geraten war. Nicht vom Thema her, auch wenn ich überrascht war, dass Barbara Yelin, 2016 in Erlangen als beste deutsche Comiczeichnerin prämiert, nach ihrem internationalen Erfolg „Irmina“ schon wieder die Lebensgeschichte einer Frau gezeichnet hat. Aber erst einmal ist Gerda, die Protagonistin in „Der Sommer ihres Lebens“ charakterlich ganz anders dargestellt als Irmina (deren Biographie auf Yelins eigene Großmutter zurückging), und dann erinnert sie sich an ihr Leben als Insassin eines Altenheims, also in einer passiven Haltung, während Irmina bis zum Schluss als aktive Gestalterin ihres Daseins auftrat. Steinaeckers Grundidee hat Barbara Yelin wohl auch deshalb fasziniert, weil darin eine ergänzende Erzählung zu Frauenschicksalen im zwanzigsten Jahrhundert steckte.

Aber wie gesagt, um die Düsternis der Lebenssituation der Heimbewohnerin Gerda geht es mir nicht. Was mich irritierte war die dunkle Palette der Farben, und was mich in Oldenburg begeistert hat, ist das vielfach hellere und vor allem kontrastreichere Erscheinungsbild der Yelinschen Originale. Nehmen wir nur das Beispiel eines Panels aus dem siebten Kapitel, eine Szene, die in der Wohnung eines Gitarristen spielt, in den sich Gerda verliebt. In für Yelin charakteristische, an Alex Raymond geschulte Weise vereint das Panel mehrere Erzählebenen, und in Oldenburg reicht die zur Unterstützung des Handlungsverlaufs eingesetzte Farbspektrum von einem hellen Türkis links bis zu einem lichten Grün rechts. Auf der Website wie im Buch säuft dieser subtile Verlauf ab in ein Blaugrün ohne größere Nuancen, und man hat Schwierigkeiten, im rechten Teil die Figur des Gitarristen überhaupt zu sehen, während sie im Original klar durch Farnabstufungen herausgearbeitet ist. Was mit der Reproduktion da schiefgegangen ist, möchte man sehr gerne wissen. Die Zeichenkunst von Barbara Yelin leider darunter ebenso wie ihre und Steinaeckers Erzählkunst, weil bewusst viel der Handlung über die Bilder transportiert wird – genau das wird in Oldenburg auch überdeutlich, weil hier die erst später mit dem Computer eingesetzten Sprechblasen und Texte noch fehlen.

So ist ein Musterbeispiel graphischen Erzählens in der Publikation zu einer Geschichte verkommen, die nur über den Text berührt, aber nicht durch die Bilder. Obwohl sich just die in ihrer Vielfarbigkeit und Vielfalt als das besonders Meisterhafte erweisen: man sehe sich nur den Blick auf den Schulhof in Kapitel zwei an: Die kommt im Buch als grauer Tag daher, im Original aber ist eine lichte Zeichnung, die unweigerlich Assoziationen zu Sempé weckt. Erstaunlich; was Farbe bewirken kann, erschreckend, was sie vermissen lässt, wenn sie inadäquat reproduziert wird. „Der Sommer ihres Lebens“ ist erst noch zu entdecken; man müsste ihn ganz neu publizieren. Und dabei jemanden nach Vilnius in die günstige litauische Druckerei schicken, der über die Ergebnisse wacht. Aber offensichtlich wurde ja auch schon bei den Scans für die Netzveröffentlichung gepfuscht.

vom 05.02.2018


Träumen Bücher von ihrer Umsetzung in Comics?

Wenn sie von Walter Moers stammen, ganz bestimmt: Der Autor hat für die Adaption seines Romans „Die Stadt der Träumenden Bücher“ selbst das Szenario angefertigt, und Florian Biege hat das Bilder gemalt, die sich bewusst vom gewohnten Stil lösen.

© Knaus

Zamonien ist ein literarisches Wunderwerk. In bislang sieben Romanen hat Walter Moers es ausbuchstabiert. Und es auch zum graphisch dazu gemacht: durch seine vielen Illustrationen, die die Bücher begleiten, wobei das jüngste, „Prinzessin Insomnia und der alptraumfarbene Nachtmahr“, von fremder Hand  mit Bildern versorgt wurde: Die begeisterte Zamonien-Leserin Lydia Kode griff zum Stift, und man darf sagen, dass diese Entdeckung von Moers ihren eigenen Reiz hat. Der Man hat offenbar nicht nur gesegnete Hände und einen hellwachen Geist, sondern auch weit offene Augen.

So auch im Falle von Florian Biege, eines freischaffenden Illustrators aus Münster, von dem ich noch nie etwas gehört hatte, bis er sich mit Moers zusammentat. Zum ersten Mal stieß ich vor sieben Jahren auf Früchte dieser Kollaboration, in der Oberhausener Ausstellung „Die 7 ½ Leben des Walter Moers“. Dort waren ein paar Comicseiten zu sehen, die Biege nach dem Zamonien-Roman „Die Stadt der Träumenden Bücher“ gestaltet hatte, nach einem Szenario von Moers selbst. Es ist kein Geheiminis, dass die 2004 erschienene „Stadt der Träumenden Bücher“ mein Lieblingsbuch von Moers ist (was einiges heißen will), und ich habe Grund zur Annahme, dass es auch sein Lieblingsbuch ist – nie habe ich ihn als so persönlich berührt empfunden wie in diesem Text. Und Comics wiederum sind unser beider Lieblingsmedium. Was durfte man also mehr erhoffen als „Die Stadt der Träumenden Bücher“ als Comic?

Nun, zum Beispiel, dass Moers ihn selbst anfertigen würde. Er begann schließlich als Comiczeichner, und sein „Kleines Arschloch“ oder die „Adolf“-Bände waren Riesenerfolge. Er hatte doch das ganze Panoptikum Zamoniens schon parat: durch seine Illustrationen in den Büchern. Und ein Szenario für eine Comic schreiben, das heißt ja meistens auch zeichnen. Allemal für jemanden wie Walter Moers. Sein Szenario ist sogar vollständig gezeichnet: Jede einzelne Comicseite ist darin ausgeführt: in schwarzweißen Panels, die man sofort auch in dieser Form drucken könnte; Moers‘ französischer Kollege Joann Sfar hat doch mehrfach bewiesen, dass die Spontaneität der Skizze die beste Form einer Bildererzählung sein kann. Und Moers, so möchte man meinen, kann gar nicht skizzieren, dafür ist er ein viel zu akribischer Zeichner.

Aber es kam eben Florian Biege zum Einsatz, und das ist keine übereilte Entscheidung gewesen, sondern wie alles bei Moers uuuuneeeendlich lang erwogen. Was vor sieben Jahren in Oberhausen angekündigt wurde, ist jetzt erst fertig geworden, ein erster Band im vergangenen Herbst, der zweite zur Jahreswende: „Die Stadt der Träumenden Bücher“ als Comic, zusammen fast 190 reine Comicseiten, angereichert im ersten Buch durch ein Glossar, das aus Anna Dollingers akribisch aufgeschlüsseltem Zamonien-Lexikon entnommen wurde, und im zweiten durch eine weitere Sensation: ein ausgiebiges Making-of, in dem sich auch einige Seiten aus dem Szenario von Moers finden. Ob das klug war, darf man bezweifeln. Denn dadurch sehnt man sich nach dem noch Besseren.

„Noch Besseren“, weil Bieges Arbeit sehr gut ist. Wer sie sich ansehen will, weil er den Comic noch nicht hat (der erste Teil hat sich schon mehr als 25.000 Mal verkauft; das sind Bestsellerzahlen in dieser Branche), der schaue hier und hier in die etwas geizigen Leseproben des Verlags. In der Tat sehr gut, aber gewöhnungsbedürftig. Schon anhand des Vorgeschmacks in Oberhausen, von dem ja nicht klar war, ob er dem entsprechen würde, was dann schließlich herauskäme, wurde deutlich, dass Moers den Comic bewusst von seinen eigenen Illustrationen absetzen wollte. Nicht, was die Figurengestaltung angeht, da nimmt Biege genau auf, was Moers vorgezeichnet hat, aber stilistisch. Biege hat den Comic „gemalt“, was auch immer das im Computergraphikzeitalter bedeutet. Es gibt also keine Konturlinien, und die Figuren wirken plastisch. Dass alles farbig ist, sei nur nebenbei erwähnt. Das war 2011 noch ein größerer Schock, aber seitdem ist ja die kolorierte Ausgabe von „Die 13 ½ Leben des Käpt`n Blaubär“ erschienen (nicht zum Besten des Buches, wie ich anmerken möchte), und „Prinzessin Insomnia“ ist farbig illustriert.

Kurz gesagt: Biege verschafft der bislang bewusst klassisch-zweidimensional gezeichneten Zamonien-Welt eine dritte Dimension durch seine künstlerische Handschrift. Über die kann man geteilter Meinung sein; ich zum Beispiel mag gemalte Comics nicht. Und was bei Bieges Bildern sofort auffällt, ist, dass er etwa den Drachendichter Hildegunst von Mythenmetz, die Hauptfigur und der Ich-Erzähler der „Stadt der Träumenden Bücher“, fast immer so zeichnet, dass nur eines seiner Augen zu sehen ist, also in variierenden Profilperspektiven. Das ist ein probates Mittel, sich die Sache leicht zu machen: Der Micky-Maus-Zeichner Floyd Gottfredson hat einmal wunderbar ausgeführt, dass er Könner auf dem Feld der Funnies – und da gehören Moers‘ Akteure ungeachtet aller philosophischen oder pathetischen Grundstimmung hin – daran erkennt, dass sie ihre Figuren aus jeder Perspektive beherrschen.

Irritierend also, dass im Anhang zu Band 2 des Moers/Biege-Comics eigens angefertigte plastische Umsetzungen der wichtigsten Figuren abgebildet sind, ganz nach der Art der Maquettes im Zeichentrick, dass man aber bei Mythenmetz nichts davon merkt. Ich habe bei nochmaliger, zugegebenermaßen rascher Durchsicht im zweiten Band ein einziges Panel gefunden, auf dem man den Drachen frontal und also seine beide Augen sieht. Bemerkenswert übrigens, dass auf den Moersschen Szenario-Seiten auch keine Frontalansicht vom Ich-Erzähler zu haben ist – und auch in allen Illustrationen zum Roman nicht. Nur fällt das dort nicht auf, weil keine Illusion von Dreidimensionalität angestrebt wird.

Aber nun genug des Bekrittelns, denn obwohl ich mit negativer Stimmung an die Zeichnungen herangegangen war, bin ich in größtem Glück aus der Lektüre herausgekommen – und in größtem Bedauern, dass ich ans Ende gelangt bin. Denn Moers und Biege ist ein Kunststück geglückt, dass man gar nicht hoch genug einschätzen kann: Sie haben die gleichermaßen abenteuerliche wie melancholische wie ironische Atmosphäre der Vorlage bewahrt, vor allem durch die höchst geschickt ausgewählten Textpassagen, die überwiegend orginalgetreu sind, an einigen Stellen aber auch variiert oder gar ganz neu. Das war natürlich allein Moers‘ Werk, und wie gesagt hat er den Comic auch graphisch weitgehend selbst konzipiert, indem sein Szenario die Panelabfolge und -perspektiven vorgab. Aber Biege hat dann auch Abwandlungen vorgenommen, und von wem etwa die spektakuläre Idee des Ausklappbildes zum Abschluss des ersten Bandes stammt, das auf vierseitiger Breite die Lederne Grotte, in der die Buchlinge leben, zeigt, würde man gerne wissen. Ein Hoch dem Knaus Verlag, dass er sich diesen speziellen Effekt geleistet hat.

Auf dieser Panoramaansicht wird ein anderer Effekt nicht eingesetzt, den Moers und Biege schätzen: das Durchwandern eines einzigen größeren Panels durch Hildegunst von Mythenmetz mittels mehrfacher Einzeichnung der Figur darin. Zum  ersten Mal wird dieser Kunstgriff auf einer Doppelseite eingesetzt, die Mythenmetz‘ Ankunft in Buchhaim zeigt, dem Zentrum der literarischen Produktion in Zamonien, aber im Laufe des Comics verlieben sich dessen beide Macher regelrecht in diese Technik. Während einige andere graphische Experimente, etwa das Heraustreten von Mythenmetz aus den Seiten eines illustrierten Buches oder überhaupt der regelmäßige Einsatz von doppelseitigen Kompositionen auf den ersten Band beschränkt blieben. Hier wird nicht nur die Handlung, hier wird auch der Comic selbst als deren Form etabliert. Im zweiten, etwas umfangreicheren Band folgt dann die eigentliche Abenteuerhandlung, und die Atemlosigkeit des Geschehens artikuliert sich auch in den dichteren Panelsequenzen.

Hier tritt dann auch die zweite Hauptfigur auf, der Schattenkönig, und das ist natürlich die größte Herausforderung der Adaption. Im Roman hat Moers ihn nie als ganze Figur gezeichnet, lediglich einzelne Partien des aus Papier zusammengefügten Körpers werden gezeigt, während die eigentliche Vorstellung dieser im unterirdischen Höhlenlabyrinth unter Buchhaim legendären Gestalt der Phantasie des Lesers überlassen bleibt. Kein Wunder, dass Bieges Schattenkönig dann eine Enttäuschung ist – Grauen und Grusel sind ungezeigt immer stärker. Aber Moers wollte es so haben, und es gibt auch für den Schattenkönig eine plastische Vorlage, die der Puppenbauer Carsten Sommer eigens als Vorbild angefertigt hat – jener Sommer, der auch die Puppen für die „Käpt’n Blaubär“-Filme im Fernsehen geschaffen hat und der zum festen Team um Moers gehört.

Bei den zwei Bänden des Comics „Die Stadt der Träumenden Bücher“ sind sie alle wieder mit dabei: Sommer eben, aber auch Oliver Schmitt (der traditionell die Buchausstattung von Moers‘ Werken beaufsichtigt), Elvira Moers (die Gattin des Autors und unentbehrliche Lektorin) und Wolfgang Ferchl (der Verleger, dem Moers seit seinen Anfängen als Buchautor bei Eichborn treugeblieben ist). Dazu ist mit Michael Hau einer der beiden besten deutschen Letterer beteiligt (der andere ist Dirk Rehm). Was soll da noch schiefgehen? Es ist ja auch nichts schiefgegangen. Der Comic macht das Wunderwerk Zamonien noch ein kleines bisschen wundersamer.

vom 26.01.2018

Es gibt etwas auf die Ohren!

Scheint sonderbar debakulös zu werden: „The winner is… – Das Sonderpreisdebakel“ – Ein SWR-Hörspiel rund um eine völlig misslungene Preisverleihung. Von Oliver Maria Schmitt & Hans Zippert. Mit Bernd Eilert, Hans Traxler, Schmitt & Zippert und Musik von Hans Well und den Wellbappn.

Schon in wenigen Monaten in Ihrem Volksempfänger (voraussichtlich November 2018)!

Die Sondermann-Gala 2017 als Podcast vom hr

Inzwischen gibt es den (entstellend gekürzten) Mitschnitt der Preisverleihung als Podcast zum Nachhören. Aus Kostengründen und Motivationsmangel verzichtet der hr allerdings auf Nennung des korrekten Titels („Die Sondermann-Gala 2017“) und die Nennung der Mitwirkenden: Patrick Bahners, Bernd Eilert, Kathrin „Coldmirror“ Fricke, Martina Gerhardt, Oliver Maria Schmitt, Hans Traxler, Hans Zippert; Musik: Hans Well und die Wellbappn. Trotzdem viel Spaß beim Reinlauschen!

http://www.hr2.de/programm/podcasts/kulturszene/podcast-episode19816.html